RA Henning Feldmann
Was ist eine Interimsvergabe und wann wird sie relevant?
Interimsvergabe hat sich in den vergaberechtlichen Sprachgebrauch eingebürgert, aber was darunter zu verstehen ist, ist häufig nicht eindeutig. Im Ergebnis meint „Interimsvergabe“ aber nichts weiter als eine „Überbrückungsvergabe“ für einen eingegrenzten, häufig kurzen Zeitraum: eine benötigte Leistung kann nicht pünktlich vergeben werden und es droht ab einem bestimmten Zeitpunkt ein vertragsloser Zustand, in dem der öffentliche Auftraggeber seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen kann. Besonders relevant ist diese Situation im Bereich der Daseinsvorsorge, also im Bereich der staatlichen Aufgabe, Güter und Leistungen bereitzustellen, die für ein menschliches Dasein notwendig sind. Dies umfasst beispielsweise Leistungen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, Energie- und Wasserversorgung, Verkehrsleistungen, Straßenreinigung oder Müllentsorgung.
Diese Aufgaben vergeben öffentliche Auftraggeber (in der Regel Kommunen) an Dritte, die diese Aufgaben erbringen (etwa: Müllentsorgungsunternehmen oder Rettungsdienstunternehmen, die dann Leistungen des Rettungsdienstes in der Stadt XY erbringen). Dieser Aufgabenübertragung liegt ein Vertrag zugrunde, der im Regelfall ausgeschrieben werden muss.
Vertrag endet und Anschlussversorgung kann nicht sichergestellt werden
Nun kann es aber zu der Situation kommen, dass ein Vertrag endet und der öffentliche Auftraggeber die Anschlussversorgung nicht sicherstellen kann. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Beispielsweise kann ein bestehender Vertrag vom Auftraggeber vorzeitig beendet werden, etwa infolge einer Kündigung wegen Schlechtleistung durch den Auftragnehmer. Oder ein beauftragter Auftragnehmer fällt infolge von Insolvenz oder sonstigen Schwierigkeiten aus.
In den letzten Monaten treten infolge der Inflation und Erhöhung der Kosten auf Auftragnehmerseite auch vermehrt Situationen auf, in denen Auftragnehmer einen Vertrag von sich aus kündigen, weil die vereinbarten Preise nicht mehr kostendeckend sind und sie den Auftrag nicht mehr ausführen wollen oder können.
Häufig sind auch Fälle, in denen ein öffentlicher Auftraggeber ein Vergabeverfahren für die Vergabe eines Folgeauftrags an sich frühzeitig genug begonnen hat, sich die Zuschlagserteilung in Folge eines Nachprüfungsverfahrens aber verzögert. Derartige Situationen will das Gesetz zwar eigentlich verhindern, indem es in § 167 Abs. 1 Satz 1 GWB den Vergabekammern die Pflicht auferlegt, innerhalb von fünf Wochen über Nachprüfungsanträge zu entscheiden. Diese Frist hält aber leider kaum eine Vergabekammer ein, Bearbeitungszeiten von vielen Monaten sind üblich.
Ordnungsgemäßes Vergabeverfahren nicht rechtzeitig gestartet
Und - so ehrlich muss man sein - in einer nicht geringen Anzahl der Fälle ist es auch der Auftraggeber selbst, der es verschlafen hat, rechtzeitig vor dem vereinbarten Vertragsende ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren zu starten, und dem dann einen Monat vorher auffällt, dass man zum nächsten Monatsersten einen neuen Dienstleister benötigt. Alle diese Situationen haben eins gemeinsam: der öffentliche Auftraggeber benötigt eine Leistung dringend und die Zeit reicht nicht aus, in einem ordnungsgemäßen Vergabeverfahren einen Vertrag über die „eigentlich“ avisierte Vertragslaufzeit zu schließen. In dem Fall muss sich der Auftraggeber dadurch behelfen, dass er einen zeitlich befristeten Auftrag z.B. über wenige Monate vergibt, um einen vertragslosen Zustand zu verhindern, die Anschlussversorgung sicherzustellen und gleichzeitig die Zeit zu überbrücken, um genug Zeit zu haben, das „richtige“ Vergabeverfahren durchzuführen. Dieser zeitlich befristete Vertrag ist der Interimsvertrag und das Vergabeverfahren, das hierfür erforderlich ist, ist die Interimsvergabe.
Einordnung in den vergaberechtlichen Kontext
Eine eigene vergaberechtliche Kategorie oder gar eine Verfahrensart, die sich „Interimsvergabe“ o.ä. nennt, gibt es nicht. Führt ein öffentlicher Auftraggeber eine Interimsvergabe durch, ist diese also in den bekannten vergaberechtlichen Kanon der Verfahrensarten einzuordnen. Zumeist handelt es sich dann um ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen „äußerster Dringlichkeit“ nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bzw. wegen „besonderer Dringlichkeit“ nach § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO. Allerdings ist zwischen einer solchen Dringlichkeitsvergabe und einer Interimsvergabe zu differenzieren, was in Rechtsprechung und Literatur leider nicht immer geschieht. Mussten z.B. nach der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 innerhalb kürzester Frist Aufträge an Entsorgungs-, Aufräum-/Bergungsunternehmen oder Bauunternehmen vergeben werden, um Menschenleben zu retten und Infrastruktur zu reparieren, so waren dies ohne Zweifel Fälle einer Dringlichkeitsvergabe, aber keine Interimsvergaben. Spiegelbildlich dürfte aber jeder Interimsvergabe eine Dringlichkeit innewohnen: nicht jede Dringlichkeitsvergabe ist also eine Interimsvergabe, aber jede Interimsvergabe ist im Regelfall an den Anforderungen einer Dringlichkeitsvergabe zu messen.
Vergaberechtliche Anforderungen an eine Interimsvergabe
Zunächst ist der Auftragswert gemäß § 3 VgV zu schätzen. Maßgeblich hierfür ist der Auftragswert des Interimsauftrags. Liegt dieser unterhalb des EU-Schwellenwerts (derzeit: 215.000,00 Euro), darf ein rein nationales Vergabeverfahren nach der UVgO durchgeführt werden. Die Anrufung einer Vergabekammer durch einen Nachprüfungsantrag ist dann unzulässig. Eine künstliche Aufsplittung auch des Interimsauftrags ist hierbei nicht zulässig, § 3 Abs. 2 VgV.
Kann ein Auftraggeber beispielsweise abschätzen, dass er „eigentlich“ einen Interimsauftrag über sechs Monate abschließen müsste, und würde der geschätzte Auftragswert hierfür den EU-Schwellenwert übertreffen, dann darf er diesen Auftrag nicht künstlich in 3 x 2 Monate oder gar 6 x 1 Monat aufteilen, um unterhalb des Schwellenwerts zu bleiben.
Häufig erreichen aber auch Verträge über wenige Monate insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge den EU-Schwellenwert. Dann gelten für die Vergabe des betreffenden Interimsauftrags die „normalen“ vergaberechtlichen Regeln des GWB und der VgV für die Dringlichkeitsvergabe des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV.
Aus dem Wortlaut des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ergeben sich folgende Voraussetzungen:
- äußerst dringliche, zwingende Gründe,
- Einhaltung der Mindestfrist nicht möglich und
- fehlende Vorhersehbarkeit und Zurechenbarkeit für den Auftraggeber.
Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein, um eine Dringlichkeitsvergabe, sei es als Interimsvergabe oder nicht, zu rechtfertigen. Nach der Rechtsprechung (siehe etwa VK Bund, Beschl. v. 20. Juli 2022, VK 2 60/22) bezieht sich dieser Ausnahmetatbestand vor allem auf einen Bedarf, der akut und unvorhersehbar entsteht.
Als Ursache für einen solchen Bedarf kommen daher insbesondere Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, „die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern“. Aber auch andere Gründe können im Grundsatz eine äußerste Dringlichkeit rechtfertigen, wie z.B. die Insolvenz des derzeitigen Auftragnehmers oder eine Kündigung des derzeitigen Vertrags.
Fehlenden Vorhersehbarkeit und Zurechenbarkeit für den AG
Problematisch ist in der Regel vor allem die letzte Voraussetzung der fehlenden Vorhersehbarkeit und Zurechenbarkeit für den Auftraggeber. Unvorhersehbar sind Ereignisse, mit denen auch bei Anlegung eines hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden konnte. Insbesondere bei der Prüfung, ob die Gründe dem Auftraggeber zuzurechnen sind, legen Nachprüfungsinstanzen einen strengen Maßstab an. Beruft sich der Auftraggeber etwa auf Verzögerungen im Vergabeverfahren, muss geprüft werden, ob diese Verzögerungen in der Sphäre des Auftraggebers liegen (ohne dass es im engeren Sinne darauf ankäme, dass der Auftraggeber dies zu verschulden hat).
Ist die Notwendigkeit einer Interimsvergabe etwa Folge davon, dass der Auftraggeber das Verfahren fehlerhaft durchgeführt oder gar zu spät begonnen hat, ist die Dringlichkeit ihm auch zuzurechnen und eine Dringlichkeitsvergabe ist nicht zulässig (vgl. etwa KG Berlin, Beschl. v. 10. Mai 2022, Verg 1/22). Dasselbe gilt dann, wenn der Auftraggeber Fördermittel zu spät abgerufen hat und er das Geld nun „möglichst schnell ausgeben muss“ (weil es sonst verfällt / zurückgezahlt werden muss) oder weil der Auftraggeber es versäumt hat, sich rechtzeitig um behördliche Genehmigungen etc. zu kümmern.
Die Insolvenz des Auftragnehmers ist dem Auftraggeber dann nicht zuzurechnen, wenn diesem im Rahmen der Auswahl des insolventen Auftragnehmers kein Fehler unterlaufen war und dessen Insolvenz also objektiv nicht vorhersehbar war. Es kommt auf den Einzelfall an.