Alexander Lahne, Leiter des Sachgebietes „Recht im SGB II“, Landratsamt München
Das Bürgergeld kommt. Im SGB II wird die Eingliederungsvereinbarung durch den - unverbindlicheren - Kooperationsplan ersetzt. Welche Neuerungen zur Potenzialanalyse wird das mit sich bringen und welche Punkte werden weiterhin besonders zu beachten sein? Wird durch das 12. Änderungsgesetz, wie im derzeitigen Entwurf im Oktober 2022 vorgesehen, die Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II durch einen - rechtlich unverbindlichen - Kooperationsplan ersetzt, so bleibt diesen beiden Integrationsinstrumenten gemeinsam, dass ihnen eine Potenzialanalyse vorauszugehen hat.
Für eine Eingliederungsvereinbarung hat die entsprechende höchstrichterliche Rechtsprechung diese Analyse gar unverzichtbare Bedingung sein lassen: So entschied das Bundessozialgericht, dass eine „Eignungsanalyse“ wohl als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Eingliederungsvereinbarung zu sehen ist (vgl. Bundessozialgericht, Urt. v. 23.06.2016 – B 14 AS 30/15 R).
Grundsätzliche Anforderungen bleiben:
Im Unterschied zur gänzlichen Neugestaltung eines zentralen Verfahrens zur Integration in Arbeit, dem Wechsel von der Eingliederungsvereinbarung zum Kooperationsplan hin, sehen die entsprechenden Gesetzesentwürfe hinsichtlich der Potenzialanalyse allerdings keine einschneidenden Änderungen vor. Diese soll in der Vorschrift des § 15 Abs. 1 SGB II verankert bleiben. Bereits aus der Norm selbst (§ 15 Abs. 1 Satz 2 SGB II) folgen weiterhin die grundsätzlichen inhaltlichen Anforderungen an die Analyse: So sind die persönlichen Merkmale, die beruflichen Fähigkeiten und die Eignung der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person festzustellen. Darüber hinaus sollen sich die Feststellungen auch auf Umstände erstrecken, welche voraussichtlich eine Integration in den Arbeitsmarkt erschweren. Diesbezüglich bleibt alles beim Alten und die Anforderungen entsprechen weiterhin denen, die an ein klassisches „Profiling“ gestellt werden. Einen kleinen Schönheitsfehler will man in diesem Zusammenhang beheben und das Wort „Potenzialanalyse“ in Klammern erst hinter den Satz mit den Erschwernissen setzen.
„Soft Skills“ als neues Element:
Als entscheidendes Novum der Potenzialanalyse soll mit der Einführung des „Bürgergeldes“ gelten, dass sich die zu erhebenden Umstände auch auf die individuellen Stärken der leistungsberechtigten Person in einem weiteren Sinne erstrecken sollen. Bereits der Koalitionsvertrag erwähnte ein „Kompetenzfeststellungsverfahren … mit dem auch „Soft Skills“ zertifizierbar werden“ (vgl. Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 75) sollen. Die Analyse soll sich laut des Regierungsentwurfes zum Bürgergeldgesetz auf „formale und non-formale Qualifikationen“ (vgl. BR-DS 456/22, S. 87 des Entwurfs bzw. S. 97 des PDF-Dokuments) der leistungsberechtigten Person erstrecken.
Im Hinblick auf eine sich immer schneller verändernde Welt mitsamt sich ständig entwickelnden Arbeitsfeldern (Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 67: „In Zeiten des digitalen und demografischen Wandels“) ist die „offizielle“ Einbeziehung auch nicht förmlich nachzuweisender Stärken zu begrüßen. Eine realistische Einschätzung der Kompetenzen und ihrer Einbeziehung in den Integrationsprozess muss natürlich Voraussetzung bleiben.
Spielraum bei der Ob-Entscheidung:
Beibehalten wird der Grundsatz, dass eine Potenzialanalyse durchgeführt werden „soll“. Auch wenn es in diesem Fall nicht um die direkte Ausübung pflichtgemäßen Ermessens geht (weil hier nicht der Erlass eines förmlichen Verwaltungsaktes im Raum steht), ist im Hinblick auf das Wort „soll“ und in Anlehnung an die Technik zur Ermessensausübung weiterhin ein Entschließungsspielraum des Leistungsträgers dahingehend gegeben, dass in Einzelfällen, nämlich in denen der Abschluss eines Kooperationsplans entbehrlich wirken wird, auch auf eine Potenzialanalyse verzichtet werden kann. Gemeinsam wird der Eingliederungsvereinbarung und dem Kooperationsplan wohl sein, dass sie sich an solche Leistungsberechtigten als Adressaten wenden, bezüglich derer aktiv Schritte in Richtung Integration eingeleitet werden sollen, sei es beispielsweise durch Maßnahme- oder Arbeitsangebote. Dies wird wohl grundsätzlich verzichtbar bleiben in Fällen, in welchen beispielsweise eine Arbeitsaufnahme unmittelbar bevorsteht oder in welchen die Unzumutbarkeit (§ 10 SGB II) einer Arbeitsaufnahme oder des Antritts einer Maßnahme gegeben ist (vgl. hierzu zum derzeitigen Stand die Fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 15 SGB II, Stand: 23.09.2020, dort 15.8 ff.). Unverändert bleibt auch, dass eine Potenzialanalyse durch den Träger nach dem SGB II entbehrlich ist, wenn dieser über die Ergebnisse eines durch den Träger nach dem SGB III durchgeführten Profilings unterrichtet wurde (§ 15 Abs. 1 S. 3 SGB II), wobei eine derartige Verpflichtung zur Übermittlung für den SGB-III-Träger aus § 9a Nr. 2 SGB III folgt. Diesem Ausnahmetatbestand kam bislang jedoch keine großartige praktische Bedeutung zu, da in den überwiegend maßgeblichen Fällen, nämlich denen der sog. „Aufstocker“ (Personen, die Leistungen nach dem SGB II neben dem Arbeitslosengeld I beziehen), in der Praxis ohnehin der Träger nach dem SGB III für die Integration der leistungsberechtigten Person zuständig war.
Erwerbsfähigkeit ist vorab zu klären:
Ein Hinweis zu einer sich abgrenzenden Thematik soll an dieser Stelle nicht unterbleiben: Es gilt nach wie vor, dass die Klärung der Erwerbsfähigkeit an sich (also nicht die der „Leistungsfähigkeit“, welcher die Frage zugrunde liegt, wie viele Stunden jemand über drei Stunden täglich hinaus arbeiten kann) nicht im Rahmen des Verfahrenskomplexes Potenzialanalyse/Eingliederungsvereinbarung – beziehungsweise künftig: Potenzialanalyse/Kooperationsplan – erfolgen darf. Die Rechtsprechung zur Eingliederungsvereinbarung ist diesbezüglich sehr deutlich geworden. Landessozialgerichte befanden, dass es nicht möglich sein kann, die grundsätzliche Überprüfung der Erwerbsfähigkeit zum Gegenstand einer Eingliederungsvereinbarung zu machen; bereits der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung mit einer Person, deren Erwerbsfähigkeit fraglich ist, soll zur Nichtigkeit der Vereinbarung führen (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30.08.2012 – L 12 AS 1044/12 ER; Hessisches LSG, Beschl. v. 17.10.2008 – L 7 AS 251/08 B ER). Die Erwerbsfähigkeit muss bereits vor Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung feststehen (SG Freiburg im Breisgau, Beschl. v. 11.09.2015 – S 19 AS 4555/15 R). Im Übrigen folgt bereits aus dem Gesetzeswortlaut selbst, dass eine Potenzialanalyse nur mit einer „erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person“ durchgeführt werden kann.
Kommen im Rahmen einer Potenzialanalyse Zweifel am Bestehen der grundsätzlichen Erwerbsfähigkeit auf, so ist das Verfahren idealerweise auf ein solches nach § 44a SGB II zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit umzustellen. Bezüglich dieses Verfahrens sieht der Koalitionsvertrag eine Standardisierung vor; die Durchführung der Prüfung der Erwerbsfähigkeit soll danach künftig ausschließlich von der gesetzlichen Rentenversicherung durchgeführt werden (Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 78). Diese Gedanken fanden jedoch im Referenten- und Regierungsentwurf zum Bürgergeldgesetz noch keinen Widerhall: Die Norm des § 44a SGB II bleibt darin zunächst unberührt.