Am 1. Januar 2023 hat das Bürgergeld als Form der sozialen, staatlichen Hilfe das Arbeitslosengeld II abgelöst. Die gesetzlichen Änderungen haben weitreichende Auswirkungen auf das Arbeiten in Jobcentern und Sozialämtern. Zum 1. Juli 2023 sollen darüber hinaus weitere Änderungen in Kraft treten.
Wir sprachen mit Alexander Lahne, Rechtsassessor und Leiter des Sachgebietes „Recht im SGB II“ im Landratsamt München sowie Autor für die Expertenlösung eGovPraxis Sozialhilfe, und Dörthe Schaiper, Senior Digital Content Manager bei Wolters Kluwer Deutschland, über das Bürgergeld und darüber, welche Auswirkungen die Gesetzesänderungen auf die Arbeit in Jobcentern haben.
Frau Schaiper, das Bürgergeld ist zum 01.01.2023 an die Stelle des bisherigen ALG II getreten. Welche Vorgänge in Jobcentern sind davon genau betroffen?
Dörthe Schaiper (D.S.): Die Neugestaltung des SGB II durch das Bürgergeldgesetz betrifft in den Jobcentern sowohl die Leistungsabteilung als auch die Vermittlungsabteilungen. Ich habe durch meine Kontakte zu den Jobcentern in der Phase der Einführung des Bürgergeldes wahrgenommen, dass der Aufwand mit der praktischen Umbenennung der Begrifflichkeit Arbeitslosengeld II in Bürgergeld beginnt – und das in einer relativ kurzen Zeit. Das klingt erstmal banal, muss aber dennoch bis in die Tiefen der einzelnen Materialien, die man verwendet, umgesetzt werden.
Dann geht es weiter zu konkreten Dingen: Was wird genau in welcher Höhe geleistet und welche Einkünfte werden ab wann wie angerechnet? Wie stellen sich die Karenzzeiten, die in der Gesetzgebungsphase in aller Munde waren, letztendlich dar? Das sind Themen, auf die sich die Jobcenter einstellen mussten. Die größte Veränderung würde ich in der Zusammenarbeit zwischen Leistungsberechtigten und Jobcenter sehen. Da wird es besonders mit den Änderungen ab dem 1. Juli 2023 andere Schwerpunkte geben. Stichwörter sind hier Kooperationsplan und die Möglichkeiten zur Verhängung von Leistungsminderungen. Auf diese Änderungen müssen die Mitarbeitenden natürlich vorbereitet werden, zum Beispiel durch Schulungen. Gleichzeitig müssen sie interpretieren und darauf warten, dass ihnen jemand erklärt, wie welche Gesetzgebung eigentlich genau umgesetzt werden sollte und wo sie welche Freiheiten haben.
Wolters Kluwer hat einen Content Hub "Fokus Bürgergeld" aufgebaut, der sich aus dem geballten Know-how der Autor:innen unserer Rechtsinformationsprodukte wie zum Beispiel der Expertenlösung eGovPraxis speist. Dort haben wir schon im Vorfeld der Einführung des Bürgergeldes Beiträge veröffentlicht und füttern diesen Content Hub weiterhin mit Insights unserer Expert:innen. Wir versuchen, konkrete Punkte aufzugreifen, die im täglichen Doing von Verwaltungen zu Schwierigkeiten führen könnten. Zum Beispiel beleuchten wir die Frage, welche Rolle die Übergangszeiten bei einer neuen Rechtslage spielen oder was die neue Textform bei der Kooperationsvereinbarung bedeutet. Der Content Hub ist kostenlos und für jeden frei zugänglich.
Herr Lahne, was bedeuten die Umstellungen für die praktische Arbeit von Sachbearbeitenden in Jobcentern?
Alexander Lahne (A.L.): Bereits jetzt, ein paar Wochen nach den ersten Neuerungen, treten ziemlich viele Praxisfragen bei täglichen Arbeitsabläufen auf. Das ist leider auch einem Gesetz geschuldet, das nicht immer praxisgerecht ist und dessen Wortlaut hier und da eindeutiger sein könnte. Je mehr man aktiv mit der neuen Materie arbeitet, desto mehr Fragen treten auch auf. Bei der Suche nach Antworten kann hilfreich sein, sich zu überlegen, was der Gesetzgeber mit einer bestimmten Norm erreichen wollte: Was ist das Ziel dieser konkreten Rechtsvorschrift? So kann man Fragen beantworten, um Verfahrensabläufe festschreiben zu können, die praktikabel und rechtssicher sind. Meiner Meinung nach hätte einiges an Aufwand vermieden werden können, wenn der Gesetzgeber weitergehende Regelungen für Neuerungen getroffen und sich an bestimmten Punkten für eine klarere Sprache entschieden hätte. So wären Konkretisierungen zu der neuen Karenzzeit zum Vermögen und den Unterkunftskosten angebracht gewesen, insbesondere im Hinblick auf Fälle, in denen sich die Anzahl der Personen in einer Bedarfsgemeinschaft verändert. Ein Beispiel für eine nicht hilfreiche Begrifflichkeit ist diejenige der „Textform“, die für den neuen Kooperationsplan vorgeschrieben ist: Es gibt hierzu zwar eine gesetzliche Definition, die in der Praxis aber nicht weiterhilft. Zum Schluss bleibt die Antwort auf die Frage, wie das Ergebnis diesbezüglicher Verhandlungen zwischen leistungsberechtigten Personen und Integrationsfachkräften denn nun konkret aussehen soll, im Nebel.
Wie können Leistungsabteilungen in Jobcentern konkret in ihrer Arbeit unterstützt werden?
A.L.: Tastsächlich sind die Mitarbeitenden in den Jobcentern gerade sehr gefordert und brauchen dringend Unterstützung. Zum einen hat sich aufgrund des Krieges in der Ukraine im letzten Jahr eine schlagartige Erhöhung der Fallzahlen der nach SGB II Leistungsberechtigten ergeben. Dann kommt das Fortschreiten der Digitalisierung in der Verwaltung hinzu, das den Mitarbeitenden viel abverlangt. Wenn ich einen Fall richtig bearbeiten will, muss ich sowohl wissen wie ich mit der entsprechenden Software umgehe, als auch die rechtlichen Vorgaben kennen, nach denen ich Entscheidungen zu treffen habe. Jetzt kommt noch die Einführung des Bürgergeldes dazu.
Wichtig ist, dass es kompakte Schulungen zur neuen Rechtslage gibt, weil das neue Grundsystem verinnerlicht werden muss. Weiter ist es unverzichtbar, eine rechtssichere, anwenderfreundliche und verlässliche Software zu haben, die zum Zeitpunkt der Einführung neuer gesetzlicher Regelungen auch in aktualisierter Fassung zur Verfügung steht. Ohne die geht heute gar nichts mehr. Die verwendete Software sollte so gestaltet sein, dass sie alle relevanten Punkte für eine Fallbearbeitung aufnehmen und ins Ergebnis transportieren kann. Das sind die zwei Komponenten, an denen man ansetzen muss: das Vermitteln von neuem Wissen und Regelungen und die pünktliche Bereitstellung der entsprechenden Arbeitsmittel.
D.S.: Außerdem ist für eine erfolgreiche Fallbearbeitung wichtig, dass alle Informationen immer auf dem neuesten Stand sowie schnell auffindbar sind – auch hierbei helfen Softwarelösungen wie eGovPraxis Jobcenter. Es ist von enormer Wichtigkeit, verschiedene Informationsquellen zu bündeln und zentral verfügbar zu machen: Wie interpretiert mein eigenes Haus die Umsetzung? Was sagt das Bundesministerium oder die Bundesagentur für Arbeit zu dieser Umsetzung? Der Gesetzgeber und die Oberbehörden sind weiter gefragt und müssen den Gesetzentwurf ausgestalten und für bestimmte Konstellationen im Detail durchspielen, damit bestehende Unsicherheiten geklärt werden können. Auch in der internen Informationsgewinnung und- aufbereitung können Jobcenter von einer professionellen Unterstützung profitieren. Die Auffindbarkeit von Informationen spielt hier genauso eine Rolle wie Struktur, Such- und Managementfunktionalität sowie Kollaborationstechnologien. Auch Interpretationsvorschläge durch Fachautor:innen können Jobcenter konkret in ihrer Arbeit unterstützen.
Mit den Neuerungen geht die gesetzlich neu gestaltete Beziehung zwischen dem Jobcenter als zuständiger sozialstaatlicher Institution und den Leistungsbeziehenden einher. Entsprechend kommt den Jobcentern bei der Umsetzung der Reform eine entscheidende Rolle zu. Was heißt das für die Jobcenter?
A.L.: Das Umdenken bezüglich einer neuen Beziehung zueinander betrifft die Arbeit der Vermittlungsfachkräfte in den Jobcentern. Eine wesentliche Neuerung in diesem Bereich ist nämlich, dass der Vermittlungsvorrang abgeschafft wird. Auch wird der Begriff der Beratung in den Mittelpunkt gestellt, wobei dieses Instrument in den Jobcentern schon immer genutzt wurde und auch schon gesetzlich niedergeschrieben war – es wird nun quasi ins Rampenlicht gerückt. Ebenso war der jetzt erwähnte „rote Faden“, der sich durch den Vermittlungsprozess ziehen soll, schon da, nämlich mit der Eingliederungsvereinbarung. Und selbst Kürzungen wegen Pflichtverletzungen, die nun nicht mehr „Sanktionen“, sondern „Leistungsminderungen“ heißen, sollen weiterhin vorgenommen werden dürfen, wenn auch unter Beachtung neuer rechtlicher Vorgaben.
Es ist meiner Ansicht nach in dem Sinne also keine grundsätzlich neue oder andere Beziehung, die zwischen Leistungsbeziehenden und Jobcenter geschaffen wird. Unterm Strich sehe ich den Kern des Umdenkens darin, dass es mit der Abschaffung des Vermittlungsvorranges nicht mehr um ein möglichst schnelles Vermitteln in Arbeit gehen soll, sondern mittel- und langfristig gedacht wird. Vor allem eine Neugestaltung der zur Verfügung stehenden Förderinstrumente macht dies deutlich. Die Neuerungen werden sich dann in den jeweiligen Einzelfällen entsprechend auswirken. Die Voraussetzungen für ein gemeinsames Arbeiten waren aber immer schon gesetzlich niedergeschrieben.
Gesetzliche Regelungen und Implementierung vor Ort sind oft alles andere als deckungsgleich. Wie kann es den Jobcentern gelingen, den Geist der Reform in die Praxis zu übersetzen?
A.L.: In der Praxis der Jobcenter sind momentan vor allem die Führungskräfte gefragt, Wege zu finden, um Prozesse festzuschreiben, die stimmig und praktikabel sind. Es ist generell in der Verwaltung eine große Aufgabe, rechtsverbindliche Vorgaben so aufzuarbeiten, dass sie in der Praxis gut nutzbar sind. Letztendlich gibt es viele Fragen, deren Beantwortung wir uns von der Rechtsprechung erhoffen, aber das dauert erfahrungsgemäß einfach. Ich bin letztendlich jedoch zuversichtlich, denn in der Vergangenheit konnte ich beobachten, dass es immer wieder Umstellungen gab, die die Jobcenter gemeistert haben. Somit ist davon auszugehen, dass umgehend auch im Sinne der neuen Regelungen, die die Einführung des Bürgergeldes mit sich bringt, gedacht und gehandelt wird.