Nach der Covid 19-Pandemie, die Anfang 2020 das globale Wirtschaftssystem massiv getroffen hat und deren wirtschaftliche Auswirkungen bis zuletzt spürbar waren, stellt nun der Ukraine-Krieg zumindest die europäische Wirtschaft vor ähnliche Herausforderungen. Davon betroffen ist auch die deutsche Bauwirtschaft, da die Bauproduktion materialintensiv ist und die hierzulande eingesetzten Baustoffe, insbesondere Baustahl, Roheisen und Bitumen bislang in erheblichem Umfang aus Russland, der Ukraine und Weißrussland beschafft wurden. Seit Kriegsbeginn beklagen Bauunternehmen deshalb außerordentliche Lieferengpässe und Materialpreissteigerungen und versuchen, insoweit bedingte Bauablaufverzögerungen und Kostensteigerungen an die Auftraggeber weiterzugeben.
Um den kriegsbedingten Unwägbarkeiten der aktuellen Bauproduktion Rechnung zu tragen, gewinnt bei neuen und laufenden Vergabeverfahren die vertragliche Vereinbarung von Materialpreisgleitklauseln (auch: Stoffpreisgleitklausel) eine besondere Bedeutung. Bestehende Verträge sind unter bestimmten Voraussetzungen terminlich und/oder finanziell anzupassen (vgl. Erlass des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, BMWSB, vom 25.03.2022).
Den zwar nicht rechtsverbindlichen, gleichwohl aber richtungsweisenden Leitgedanken des Erlasses vom 25.03.2022 folgend, erörtert der Beitrag die wesentlichen baubetrieblichen Aspekte zu deren bauvertraglichen Umsetzung:
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Vereinbarung von Preisgleitklauseln
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Verlängerung von Ausführungsfristen
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Anpassung der vertraglichen Vergütung
Vereinbarung von Preisgleitklauseln bei neuen und laufenden Vergabeverfahren
Bauverträge sind in aller Regel Festpreisverträge. Aufgrund der aktuell bestehenden finanziellen Unwägbarkeiten bei der Beschaffung bestimmter Baustoffe soll bzw. kann bei neuen und laufenden Vergabeverfahren durch die Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln (ausnahmsweise) ein Mechanismus zur automatischen Preisanpassung aufgenommen werden, der die Unternehmerseite (in Grenzen) von den unübersehbaren Beschaffungsrisiken freistellt.
Mit diesem vertraglich vereinbarten Mechanismus soll vor allem erreicht werden, dass Angebotspreise von den bietenden Unternehmen überhaupt sachgerecht, das heißt: kosten-kausal, kalkuliert werden können, ohne dass bei der Preisangabe unkalkulierbare Risiken übernommen würden, oder aber durch die Einrechnung von erheblichen Risikozuschlägen Angebotspreise erzielt würden, die kaum mehr sachlich nachvollziehbar wären.
Das nachfolgende Beispiel veranschaulicht die Grundzüge der Preisgleitung bei Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel entsprechend dem Formblatt 225 des Vergabehandbuch des Bundes (VHB 225).
Beispiel Preisgleitung
Gegenstand des Beispiels ist der Baustoff „Betonstahl“, der im Leistungsverzeichnis unter der Ordnungszahl 01.01.550 „Betonstahl verlegen“ geführt ist und in der Fachserie 17, Reihe 2 des Statistischen Bundesamtes (www.destatis.de), die GP-Nummer 24 10 62 100 trägt. Die Indexentwicklung dieses Baustoffs über die Monate 1 bis 13 ist in der nachfolgenden Abbildung in Form eines Liniendiagramms dargestellt.
Abb. 1: Indexentwicklung Betonstahl über 13 Monate (Quelle: Eigene Abbildung)
Auf Basis der Indexentwicklung werden die Mehr- bzw. Minderkosten aufgrund Preisgleitung in mehreren Rechenschritten ermittelt:
Als Basiswert 1 zum Zeitpunkt des Versands der Vergabeunterlagen (im Monat 1) wird auftraggeberseitig der Wert 500 €/to. festgelegt. Grundlage hierfür kann z.B. eine Marktrecherche sein.
Die Angebotsöffnung/Vergabe findet im Monat 4 statt. Der Basiswert 2 ermittelt sich damit wie folgt:
Basiswert 2 = Basiswert 1 x Indexwert (Versand Vergabeunterlagen) / Indexwert (Angebotsöffnung/Vergabe).
Im Beispiel ergibt sich der Basiswert 2 zu 520 €/to.
Die Leistung wird im Monat 12 ausgeführt und abgerechnet. Der Basiswert 3 ermittelt sich damit wie folgt:
Basiswert 3 = Basiswert 2 x Indexwert (Ausführung/Abrechnung) / Indexwert (Angebotsöffnung/Vergabe).
Im Beispiel ergibt sich der Basiswert 3 zu 536 €/to.
Die im Monat 12 ausgeführte Leistung beläuft sich auf 200 to. In Verbindung mit den zuvor ermittelten Basiswerten 2 und 3 ergeben sich damit die Mehrkosten aus Preisgleitung zu
3.200 € (= 200 to. x (536 €/to. – 520 €/to.)).
Im Rahmen der Gesamtabrechnung sind schließlich noch die Regelungen zu Bagatellgrenze (VHB 225: 2 % des Abrechnungsvolumens der gegenständlichen Positionen) und Selbstbehalt (VHB 225: 10 % der Mehr- oder Minderkosten, mind. Bagatellgrenze) zu berücksichtigen.
Baubetriebliche Einordnung
Baubetrieblich ist zur Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln, die zu einer automatischen Preisanpassung der betreffenden Materialien führt, anzumerken, dass es sich dabei um ein abstraktes Verfahren handelt, bei dem die Preisveränderungen – vereinfachend – auf Basis der allgemeinen empirischen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes durchgeführt wird. Die Besonderheiten des Einzelfalls finden dabei keine Berücksichtigung.
Zum Beispiel wird durch den „Anpassungsautomatismus“ überlagert, dass es Unternehmen im Einzelfall möglich sein könnte, durch eine umsichtige Einkaufspolitik, die sich nicht zuletzt auf vorausschauende Marktbeobachtungen stützt, günstigere Einkaufsbedingungen zu realisieren als durch den allgemeingültigen Index abgebildet werden kann.
Im obigen Beispielsfall hätte ein Materialeinkauf im Zeitraum von Monat 5 bis Monat 9 etwa dazu geführt, dass sogar günstigere Materialkosten realisiert worden wären als zu den Zeitpunkten der Angebotsöffnung/Vergabe und der Ausführung.
Dieser Einkaufsvorteil geht bei einer „automatischen“ Preisgleitung also verloren, weshalb sich insbesondere für private Auftraggeber, die in der aktuellen Situation eine Risikoverteilung bezüglich der Materialbeschaffung vertraglich vereinbaren wollen, die Möglichkeit bedacht werden sollte, den konkreten Projektgegebenheiten bei der Preisanpassung mehr Raum zu geben.
Denkbar und durchaus praxiserprobt sind insoweit z.B. Regelungen, bei denen für die betreffenden Materialien zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer die Beschaffungszeitpunkte unter Berücksichtigung der Markt- und konkreten Projektgegebenheiten gemeinsam festgelegt werden.
Je höher die Volatilität der Indexentwicklung (wie aktuell aufgrund der kriegsbedingten Einflüsse), desto mehr kommt es zur Erzielung von den Umständen entsprechend günstigen Beschaffungskosten auf eine gründliche Marktanalyse, vorausschauende Einkaufspolitik und nicht zuletzt auf einen kooperativen Umgang der Vertragspartner an.