Stationäre Therapie im Strafvollzug
Recht & Verwaltung16 September, 2021

BSG: SGB II oder XII? Stationäre Therapie im Strafvollzug

In welches Leistungssystem sind Fälle einzuordnen, bei denen ein Strafvollzug für eine längere stationäre therapeutische Behandlung zurückgestellt wird? Bleibt das SGB XII einschlägig oder ist das SGB II anzuwenden?

Der Fall

Die leistungsberechtigte Person hielt sich zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in der JVA R. auf. Sie wurde zwecks Durchführung einer stationären Entwöhnungstherapie gemäß § 35 BtMG in eine Fachklinik entlassen. Nach ihrer Entlassung aus der Fachklinik ist sie am gleichen Tag in die Adaption A. gewechselt. Der überörtliche Sozialhilfeträger bewilligte Leistungen der stationären Eingliederungshilfe für die Zeit der Behandlung in der Fachklinik und die Adaptionsphase.
 
Das Amtsgericht hatte der Zurückstellung der Strafvollstreckung aus dem vorangegangenen Urteil zugestimmt und mitgeteilt, dass die nachgewiesene Zeit in der Fachklinik auf die Strafe angerechnet werde, bis infolge der Anrechnung zwei Drittel der Strafe erledigt seien. Mit nachfolgender Entlassungsanordnung der Staatsanwaltschaft wurde die Strafvollstreckung "für zunächst ein Jahr" zurückgestellt.

Die Entscheidung

Das BSG lehnte einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ab und bestätigte den Verbleib im Sicherungssystem des SGB XII.
 
Mit Aufenthalt in der JVA war die Leistungsberechtigte Person bereits nach § 7 Abs 4 SGB II von SGB II-Leistungen ausgeschlossen. Dies galt auch weiterhin während des Aufenthalts in der Fachklinik und der Adaption, denn die Person befand sich weiterhin "im Vollzug" einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung.

"Eine Zurückstellung der Strafvollstreckung setzt nach § 35 Abs 1 Satz 1 BtMG die vorangegangene rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren voraus. Die Freiheitsentziehung ist nicht bereits mit der Zurückstellungsentscheidung beendet. Zwar war der Kläger nicht mehr im Strafvollzug im engeren Sinne in einer Justizvollzugsanstalt; die Strafvollstreckung im weiteren Sinne lief aber auch während der Zeit der Zurückstellung weiter. Dies zeigen auch die Befugnisse der Strafvollstreckungsbehörden während der Zurückstellungsphase und die Anrechnung der Behandlungszeiten in einer staatlich anerkannten Einrichtung auf die verhängte Freiheitsstrafe. Den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs 4 Satz 2 SGB II lässt sich ein weites Verständnis dieses Ausschlusstatbestandes entnehmen. Es sollten auch andere richterlich angeordnete Freiheitsentziehungen erfasst werden, bei denen dem Behandlungscharakter eine wesentliche Bedeutung zukommt.

Aufgrund der mit richterlicher Zustimmung erfolgten Zurückstellung des Klägers von der Strafvollstreckung allein zum Zweck und für die Dauer der Behandlung bestand während der nur streitigen Aufenthaltszeiten des Klägers in der Fachklinik und Adaption weiterhin eine Verbindung zum Strafvollzug und dem Grunde nach eine Zuordnung zum System des SGB XII, nicht jedoch des SGB II."
 

Fazit

1. Leistungsberechtigte Personen verbleiben im Leistungssystem des SGB XII auch wenn eine Entlassung aus der JVA erfolgt, soweit sie sich weiterhin "im Vollzug" einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung befinden.

2. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II muss weit ausgelegt werden und erfasst auch andere richterlich angeordnete Freiheitsentziehungen, bei denen dem Behandlungscharakter eine wesentliche Bedeutung zukommt.
 
Praxishinweis: Wird der Strafvollzug zur Behandlung in stationärer Entwöhnung ausgesetzt, muss die Sachbearbeitung also mit dem Verbleib im Leistungsbezug nach dem SGB XII rechnen und prüfen ob die oben dargestellten Kriterien, insbesondere die richterliche Anordnung, vorliegen.
 
Quelle: Terminbericht vom 05.08.2021 zur Entscheidung B 4 AS 58/20 R

Redaktion: eGovPraxis
Bildnachweis: elmar gubsch/stock.adobe.com

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