Dieser Beitrag stellt lediglich einen Auszug aus dem vollständigen Fachaufsatz dar. Den vollständigen Text finden Sie in der aktuellen Ausgabe der VSSAR - Vierteljahresschrift für Sozial- und Arbeitsrecht. Den Link zum Shop finden Sie hier.
Die neue Eingliederungshilfe
Prof. Dr. Dirk Bieresborn
1. Unterschiede zum alten Recht
Obwohl der Gedanke der Personenzentriertheit auch nach altem Recht galt116 hat die Neuausrichtung der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz 117 zum 01.01.2020 im Ergebnis zu einem vollständigen Systemwechsel geführt.118 Dies manifestiert sich durch die Einführung eines Antragserfordernisses (§ 108 SGB IX) im Unterschied zum bis dahin geltenden Kenntnisgrundsatz (§ 18 SGB XII) sowie den Wegfall der Charakterisierung in ambulante, teilstationäre und stationäre Maßnahmen,119 weil die notwendige Unterstützung behinderter Menschen unabhängig vom Ort der Leistungserbringung gewährleistet werden soll.120 Das SGB IX enthält im Unterschied zum SGB XII keine Einschränkungen der Leistung wegen »sozialwidrigen« Verhaltens sowie keine nachträgliche Realisierung des Nachrangs durch Erstattung des Erben oder bei schuldhafter Herbeiführung der Bedarfslage und keine Feststellung von Sozialleistungen durch den Leistungsträger in Verfahrens- und Prozessstandschaft.121 Es fehlen auch Auskunftspflichten Dritter.
Eine Übergangsregelung wurde nur mit Blick auf das Vertragsrecht für die Zeit vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2019 getroffen (§ 139 SGB XII i.d.F. des Art. 12 Nr. 1b des BTHG). Für die Zeit danach waren neue Verträge zwischen den Leistungserbringern (Einrichtungsträgern) und den neuen Eingliederungshilfeträgern des SGB IX, deren sachliche Zuständigkeit bereits vorzeitig (ab 2018) von den Ländern bestimmt werden konnte und sollte, zu schließen (§ 94 Abs. 1 SGB IX i.V.m. Art. 26 Abs. 4 Nr. 1 BTHG).122
Als besonderes Merkmal des Systemwechsels ist die unterschiedliche Einkommens- und Vermögensberücksichtigung des SGB IX im Vergleich zum SGB XII hervorzuheben.123 Ansatzpunkt für die Ermittlung eines Beitrags des Leistungsberechtigten ist dessen Gesamtbruttoeinkommen (§ 135 Abs. 1 SGB IX) und nicht der sozialhilferechtliche Einkommensbegriff des § 82 SGB XII.124 Das SGB IX stellt damit nur noch auf das aktuelle Einkommen und Vermögen des Betroffenen selbst und bei im Haushalt der Eltern lebenden Minderjährigen zusätzlich auf das der Eltern ab (§§ 136, 140 SGB XII). Es gelten hohe Freigrenzen in unterschiedlicher Höhe nach Einkommensart und Familienstatus, bei deren Übersteigen ein monatlicher Beitrag (§ 92 SGB IX) i.H.v. 2 % des übersteigenden Betrags zu berücksichtigen ist (§ 137 Abs. 2 SGB IX).
Die Bedarfsermittlung erfolgt im Rahmen eines Gesamtplanverfahrens (§ 117 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX), das mithilfe einer Gesamtplankonferenz (§ 119 SGB IX) die Abstimmung der Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer beinhaltet. Daran nehmen bei Anhaltspunkten für eine Pflegebedürftigkeit die zuständige Pflegekasse (§ 117 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) sowie bei solchen, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Zwölften Buches erforderlich sind, der Sozialhilfeträger (§ 117 Abs. 3 Satz 2 SGB IX) teil.125
2. Abkoppelung Fachleistung – Lebensunterhalt
a) Systematik
Nach § 93 SGB IX126 bleiben die Vorschriften über die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sowie über die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Grundsicherung im Alter nach dem 3. und 4. Kap. des SGB XII und die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 ff. SGB XII), die Altenhilfe (§ 71 SGB XII) und die Blindenhilfe (§ 72 SGB XII) durch den Teil 2 des SGB IX unberührt. Hieraus ergibt sich der zentrale Grundsatz der Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe und der Leistungen für den Lebensunterhalt.127 Letztere sind seitdem nicht mehr Teil eines Gesamtpaketes, das im Rahmen der Eingliederungshilfe gewährt wird. Eine § 27b SGB XII entsprechende Norm kennt das SGB IX nicht.128
b) Konsequenz für den Leistungsumfang
Leistungsrechtlich führt die Trennung von Fachleistung und Lebensunterhalt zu einer Zuordnung der Bestandteile der Hilfen zu den existenzsichernden Leistungen zum Lebensunterhalt einschließlich Wohnen einerseits und den notwendigen individuellen Fachleistungen andererseits. Während nach dem Konzept der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe die stationäre Hilfe als einrichtungszentrierte »Gesamtleistung« auch den in der Einrichtung erbrachten (notwendigen) Lebensunterhalt als integralen Bestandteil der Eingliederungshilfe mit umfasste,129 gilt in der Eingliederungshilfe nun das Konzept der personenzentrierten Fachleistung. Unabhängig davon, ob in der Einrichtung ein tagesstrukturierender Ablauf im Sinne eines arbeitspädagogischen und arbeitstherapeutischen Eingliederungsinstruments die Einnahme eines gemeinsamen Mittagessens verlangt,130 wurde eine Zäsur vorgenommen, die es nicht mehr rechtfertigt, die Nahrungsaufnahme der Eingliederungshilfe zuzurechnen.131 Ausnahmen gelten nur für Minderjährige in besonderen Wohnformen über Tag und Nacht (§ 134 Abs. 1 i.V.m. § 27c Abs. 1 Nr. 1 SGB XII)132 und für Volljährige in besonderen Ausbildungsstätten des SGB IX wie bei Maßnahmen der Schulbildung (§ 112 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX), der schulischen Ausbildung für einen Beruf (§ 112 Abs. 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB IX) und bei bestimmten Ausbildungsmaßnahmen über Tag und Nacht wie speziellen Internatsschulen für Menschen mit Behinderung (vgl. § 134 Abs. 4 i.V.m. § 27c Abs. 1 Nr. 2 SGB XII).133
Dem Lebensunterhalt zuzuordnen sind demgegenüber Bedarfe, die bei Menschen mit und ohne Behinderung in gleicher Weise bestehen können und von allen Menschen zunächst einmal eigenständig bestritten werden müssen. § 27a SGB XII i.V.m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz liefert hierfür wichtige Anhaltspunkte: Neben Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, Unterkunft und Heizung findet die Ernährung in § 27a Abs. 1 Satz 1 ausdrückliche Erwähnung, die Nahrungsmittel und Getränke umfasst.134 Der Leistungskatalog des § 76 Abs. 2 SGB IX erwähnt – wenn dieser auch nicht abschließend ist135 – diese hingegen nicht. Demgegenüber enthält der neu eingeführte § 42b SGB XII eine neue Mehrbedarfsregelung für Personen mit Behinderungen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), bei einem anderen Leistungsanbieter (§ 60 SGB IX) oder im Rahmen eines vergleichbaren anderen tagesstrukturierenden Angebots an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung teilnehmen.136
Nach § 113 Abs. 4 SGB IX137 werden wiederum zur Ermöglichung der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung die erforderliche sächliche Ausstattung, die personelle Ausstattung und die erforderlichen betriebsnotwendigen Anlagen des Leistungserbringers übernommen. Hierbei handelt es sich nicht um eine individuelle Sozialleistung i.S.d. § 11 SGB I, sondern um eine zwingende Projektförderung, mit der nur der Leistungserbringer subventioniert wird.138 § 134 SGB IX139 enthält wiederum eine Regelung für erforderliche Sonderverträge der Träger der Eingliederungshilfe mit den Leistungserbringern, indem sie Fälle des in die Fachleistung inkludierten Lebensunterhalts aufgreift, wobei die Inklusion selbst in § 27c SGB XII normiert ist.140
Die Systematik der Leistungen für den Lebensunterhalt und für die Eingliederungshilfe sind damit klar abgegrenzt: Die reinen Verpflegungskosten unterfallen dem SGB XII, während die sonstigen Kosten wie die sächliche Ausstattung – allerdings als institutionelle Förderung ggü. der Einrichtung – der Eingliederungshilfe unterfallen. Jedenfalls muss sich der behinderte Mensch nun mit mindestens zwei Trägern auseinandersetzen.141
c) Ungelöste Probleme
Nicht geklärt ist indes wie zu verfahren ist, wenn der Zuschlag nach § 42b Abs. 2 SGB XII den tatsächlichen Aufwand der Einrichtung im Einzelfall nicht deckt. Vertreten wird insoweit, dass § 113 Abs. 4 SGB IX eine Auffangfunktion zukomme.142
Ebenso ungeklärt ist, ob der Leistungserbringer vertraglich höhere Kosten für die Mittagsverpflegung gegenüber dem Betroffen geltend machen kann, weil insoweit keine iSv § 32 SGB I bindenden Normverträge existieren. Von der Vorgabe des § 15 Abs. 3 WBVG, dass die Verträge zwischen Leistungsberechtigtem und Erbringer diesen Vereinbarungen entsprechen müssen, werden nur die Fachleistungen, hingegen nicht mehr dem Lebensunterhalt zufallende Dinge erfasst.143 Es spricht viel dafür, mit der Subventionierung die Verpflichtung zur Sicherstellung der gesetzlichen Voraussetzungen zu verbinden, so dass der Einrichtungsträger von der betroffenen Person nur Essenskosten in Höhe der gesetzlichen Pauschale verlangen kann.144 Vertreten wird insoweit die Sittenwidrigkeit der vertraglichen Vereinbarung höherer Kosten (§ 138 BGB),145 was freilich am ehesten bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 138 Abs. 2 2., 3. und 4. Alt. BGB denkbar ist.
Bis zum 31.12.2019 wurde der vollerwerbsgeminderten Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen »G« zustehende Mehrbedarf nach § 42 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII als Berechnungselement in die Vergütung der Einrichtung eingestellt.146 Im Rahmen der »budgetneutralen Umstellung« wird dieser Betrag nun von der Einrichtung dem Behinderten für dessen Unterbringung in Rechnung gestellt. Hat der Leistungsberechtigte Bedarfe wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit, die nicht durch das institutionelle Angebot gedeckt werden, benötigt er diesen jedoch selbst. Problematisch ist dies z.B. bei geistig behinderten Menschen, deren diesbezüglicher Bedarf bei Orientierungslosigkeit nie durch die stationäre Einrichtung gedeckt wird.147 Mit Wirkung zum 01.01.2023 wurde für Leistungsberechtigte ein Mehrbedarf normativ eingeführt, soweit im Einzelfall ein einmaliger, unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht, der auf keine andere Weise gedeckt werden kann und ein Darlehen nach § 37 Abs. 1 SGB XII ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist (§ 30 Abs. 10 SGB XII).148
Fußnoten
116 Vgl. nur BSGE 134, 149 = SozR 4-3500 § 19 Nr. 7 Rn. 18.
117 Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen Bundesteilhabegesetz (BTHG) v. 23.12.2016, BGBl I, S. 3234.
118 BT-Drucks. 18/9522, S. 290; zuletzt BSG, Urt. v. 18.12.2024 – B 8 SO 14/22 R – SozR 4 (vorgesehen), Rn. 16.
119 BT-Drucks. 18/9522, S. 197; zur Kritik der UN-Fachausschüsse an der Existenz von Einrichtungen für Behinderte mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Teilhabe und Selbstbestimmung unten 8.
120 Zum Individualisierungsgrundsatz vgl. BSG SozR 4-5910 § 39 Nr. 1 Rn. 26; BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr. 8, Rn. 21; BSGE 122, 154 = SozR 4-3500 § 53 Nr. 5, Rn. 26; Coseriu, SchlHA 2019, S. 130, 132.
121 Vgl. §§ 95, 103, 117 SGB XII; Eicher, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., Anhang zu § 19 SGB XII Stand: 26.03.2024, Rn. 2–11.
122 Vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 363 zu Art. 26; Weber, Die neue Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, 2020, Rn. 85 ff.
123 BT-Drucks. 18/9522, S. 5; Eicher, jurisPR-SozR 18/2022 Anm. 5.
124 Palsherm, in: jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., Stand: 01.10.2023, § 135 SGB IX Rn. 14.
125 S.a. zu Überschneidungen insb. beim Mobilitätsbedarf Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege mit dem Fokus auf Leistungen im häuslichen Bereich v. 10.05.2022, S. 9 (im Folgenden: Empfehlungen DV).
126 I.d.F. des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen Bundesteilhabegesetz – (BTHG) v. 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234.
127 Frerichs, in: Hauck/Noftz (Hrsg.) SGB IX, 2. Erg.Lfg. 2024, § 93 SGB 9 2018, Rn. 16.
128 Rosenow, ASR 2021, 195.
129 S. dazu oben IV.2.e).
130 BSGE 102, 126–134 = SozR 4-3500 § 54 Nr. 3, Rn. 18 f.
131 Vgl. BSG, Urt. v. 28.02.2025 – B 8 SO 9/23 (SozR vorgesehen).
132 BT-Drucks. 18/9952, S. 333; vgl. dazu Eicher, in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Anhang zu § 19 Rz 47 m.w.N.
133 Frerichs, in: Hauck/Noftz (Hrsg.) SGB IX, 2. Erg.Lfg. 2024, § 93 SGB 9 2018, Rn. 20.
134 Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., Stand: 01.05.2024, § 27a SGB XII, Rn. 39.
135 Wehrhahn, in: jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., Stand: 01.10.2023, § 102 SGB IX Rn. 38.
136 Eicher, jurisPR-SozR 10/2023 Anm. 3.
137 I.d.F. des Gesetzes v. 23.12.2016, BGBl. I, S. 3234.
138 S. insgesamt zur Projektförderung Eicher, NDV 2022, 290.
139 I.d.F. des Angehörigen-Entlastungsgesetzes v. 10.12.2019, BGBl I, S. 2135.
140 Krit. Eicher, in: jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., Stand: 01.05.2024, Anhang zu § 19 SGB XII Rn. 54.
141 Coseriu/Krauß, in: FS f. Schlegel (Fn. 107), S. 797.
142 Kellner, NZS 2022, 594; Weber, Sozialrecht aktuell 2022, 114.
143 Rosenow, ASR 2021, 195, 196.
144 Überzeugend Eicher, jurisPR-SozR 10/2023 Anm. 3.
145 Eicher, jurisPR-SozR 10/2023 Anm. 3.
146 Vgl. BSG SozR 4-3500 § 30 Nr. 7 Rn. 16.
147 Coseriu/Krauß in: FS f. Schlegel (Fn. 107), 2024, S. 794.
148 I.d.F. Zwöftes Gesetz zur Änderung des zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung des Bürgergeldes (Bürgergeldgesetz) v. 16.12.2022, BGBl. I 2022, S. 2328.
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Prof. Dr. Dirk Bieresborn
Richter am Bundessozialgericht (BSG), Honorarprofessor an der Philipps-Universität Marburg