Zum 100. Jubiläum der VOB im Jahr 2026 spricht Prof. Stefan Leupertz über wichtige Meilensteine, Herausforderungen und die Zukunft der VOB.
Herr Prof. Leupertz, was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Meilensteine der VOB?
Prof. Stefan Leupertz: Ich muss vorwegschicken, dass ich die Entwicklung der VOB/A nicht im Detail verfolgt habe und deshalb nicht aus eigener Anschauung beurteilen kann. Ein wichtiger Meilenstein war sicher die Konsolidierung der Teile A und B im Jahre 1973. Die VOB/B in der Fassung 2002/2003 beinhaltete wichtige Änderungen zur Implementierung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, insbesondere in § 13 VOB/B. Die letzten Neufassungen der VOB betrafen im Wesentlichen den Teil A, der gewissermaßen in ständiger Bewegung ist, ohne dass ich hierzu im Einzelnen einschätzen kann, welche Anpassungen besonders bedeutsam waren. Die wichtigste Zäsur für die VOB/B ist bisher unbearbeitet. Sie ist bedingt durch die Einführung des neuen Bauvertragsrechts im Jahre 2018, das bisher keinen Anklang in den Bestimmungen der VOB/B gefunden hat.
Wie hat sich die Anwendung der VOB in der Praxis verändert?
Prof. Stefan Leupertz: Die VOB/B galt über viele Jahrzehnte als die Bibel der Baurechtspraxis. Sie wurde praktisch wie ein Gesetz gehandhabt, obwohl es sich lediglich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt. Diese Sichtwiese hat sich in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch die Einführung des gesetzlichen Bauvertragsrechts, verschoben und die VOB/B hat deutlich an Relevanz verloren, wenngleich sie immer noch weit verbreitet ist und als Standardregelwerk für die Abwicklung von Bauvorhaben aller Art genutzt wird, zumal die öffentliche Hand sie verwenden muss. Dafür gibt es gute Gründe, weil die VOB/B immer noch ein Regelwerk bereitstellt, mit dem in der Baupraxis erhebliche Lücken der gesetzlichen Regelungen geschlossen werden können. Allerdings ist eine Tendenz zu beobachten, dass die VOB/B kaum jemals ohne Änderungen vereinbart wird, was dazu führt, dass ihre Klauseln regelmäßig der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Auch das führt zu einer stärkeren werdenden Zurückhaltung bei der Verwendung der VOB/B.
Welche BGH-Urteile haben die VOB zuletzt besonders geprägt?
Prof. Stefan Leupertz: Zu nennen sind im Wesentlichen zwei Urteil des BGH aus der jüngsten Vergangenheit. Mit seiner Entscheidung vom 08.08.2019 (VII ZR 34/18) hat der VII ZS des BGH der über Jahrzehnte tradierten Sichtweise eine Absage erteilt, dass die Anpassung der vertraglichen Einheitspreise bei Mengenänderungen gemäß § 2 Abs. 3 VOB/B nach der sog. Methode der vorkalkulatorischen Preisfortschreibung zu erfolgen habe. Er stellt hierzu fest, dass die genannte Vorschrift keine dahingehenden Vorgaben zur Bemessung des neuen Preises enthält, der, wenn keine anderweitigen Vereinbarungen getroffen sind, stattdessen im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nach dem nun auch gesetzlich verankerten Prinzip der tatsächlich erforderlichen Kosten zu ermitteln ist. Es ist zu erwarten, dass der BGH auch zu §§ 2 Abs. 5 und Abs. 6 in gleicher Weise entscheiden wird, was zu einem völlig neuen Verständnis bei der Anwendung dieser zentralen Vorschriften der VOB/B führen wird und in der obergerichtlichen Rechtsprechung auch schon geführt hat.
Die zweite wichtige Entscheidung des VII. ZS des BGH stammt vom 19.01.2023 und betrifft § 4 Abs. 7 VOB/B, der nach den Feststellungen des BGH der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nicht standhält, weil die dort im Zusammenspiel mit § 8 Abs. 3 VOB/B enthaltene Kündigungsregelung den Vertragspartner des Auftraggebers, der zugleich Verwender ist, unangemessen benachteiligt. Diese Entscheidung hat deshalb große Bedeutung, weil nun ein wichtiges Argument für die Einbeziehung der VOB/B, nämlich Mängelrechte vor der Abnahme geltend machen zu können, verloren gegangen ist.
Welche Entwicklungen erwarten Sie für die nächsten Jahre?
Prof. Stefan Leupertz: Die VOB/B wird grundlegend reformiert werden müssen, um die dringend benötigte Anpassung an das gesetzliche Bauvertragsrecht nachzuvollziehen. Andernfalls wird sie mehr und mehr unter Druck geraten und an Bedeutung verlieren. Ich erwarte, dass der DVA diesen Schritt in nicht allzu ferner Zukunft vollziehen wird, um der VOB/B den Platz in der Baurechtspraxis zu erhalten, den sie traditionell einnimmt und auch weiter einnehmen soll.
Was wünschen Sie der VOB zum 100. Geburtstag?
Prof. Stefan Leupertz: Die VOB möge, in allen Teilen, weiterhin als praxisgerechtes Regelwerk Bestand haben. Dafür sind einige grundlegende Anpassungen insbesondere im Teil B erforderlich. Ich wünsche dem DVA und den beteiligten Interessengruppen, dass sie diesen überfälligen Prozess rechtzeitig zum 100. Geburtstag der VOB abschließen und die VOB uns auf diese Weise als das erhalten bleibt, was so viele Generationen an Baufachleuten und Baujuristen zu schätzen gewusst haben: Eine bereitliegende Vertragsordnung zur Verfügung zu haben, mit der sie im täglichen Geschäft sinnvoll arbeiten können.