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Recht & Verwaltung13 Oktober, 2021

Kinderarmut – So kann und darf es nicht weitergehen

von Antje Funcke und Sarah Menne

Armut hat gravierende Folgen für junge Menschen

Die Kinderarmut ist in Deutschland seit Jahren auf einem hohen Niveau. Die aktuelle Coronakrise wird die Armut noch weiter erhöhen und die Situation betroffener Kinder und Familien verschärfen. Wir zeigen, was Arm-Sein für Kinder und Jugendliche in Deutschland heißt, wie groß das Problem ist und wie Kinderarmut wirksam vermieden werden kann.

Was bedeutet Armut in Deutschland überhaupt? In einem reichen Land wie Deutschland heißt Armut in der Regel nicht, kein Dach über dem Kopf oder nichts zu essen zu haben. Armut heißt vielmehr, dass Einkommen oder Besitz nicht ausreichen, um einen Lebensstandard zu haben, der in unserer Gesellschaft als selbstverständlich bzw. normal gilt und der einem ermöglicht, an unserer Gesellschaft teilzuhaben.

Kinder- und Jugendarmut ist immer auch Familienarmut und muss daher im Zusammenhang mit der Situation der Familie betrachtet werden. Kinder und Jugendliche können nichts dafür, wenn sie in armen Verhältnissen aufwachsen. Sie trifft keine Schuld! Sie haben auch keine Möglichkeiten, sich selbst aus ihrer Armut zu befreien.

Kinder- und Jugendarmut in Deutschland

Wie viele Kinder und Jugendliche sind in Deutschland arm? Um Armut zu messen, gibt es in der Wissenschaft zwei anerkannte Armutsdefinitionen. Erstens gelten nach der sozialstaatlich definierten Armutsgrenze Kinder als arm, die in einem Haushalt leben, der Grundsicherungsleistungen (SGB II/Hartz IV) erhält. Zweitens werden laut der relativen Einkommensarmutsdefinition der OECD Kinder als arm bezeichnet, die in Haushalten leben, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens) aller Haushalte beträgt. Beide Definitionen sind nicht deckungsgleich. Wendet man beide Armutsdefinitionen gemeinsam an, so wächst mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf – das sind 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre.

Die Kinderarmut verharrt bereits seit Jahren auf diesem hohen Niveau – ohne dass die lange Zeit gute wirtschaftliche Entwicklung oder zahlreiche familienpolitische Reformen etwas daran geändert haben. Für zwei Drittel der von Armut betroffenen Kinder ist Armut ein Dauerzustand, der während eines Großteils oder gar ihrer gesamten Kindheit und Jugend anhält.

Betroffene Armutsgruppen

Wer ist besonders häufig von Armut betroffen? Besonders häufig trifft es Kinder und Jugendliche aus alleinerziehenden Familien sowie mit zwei oder mehr Geschwistern. Fast zwei Drittel der alleinerziehenden Familien gelten als einkommensarmutsgefährdet. 34,2 Prozent beziehen SGB-II-Leistungen, von den Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern sogar 66,7%. Auch 19,1% der Paarfamilien mit drei und mehr Kindern sind auf SGB II-Leistungen angewiesen. (Zum Vergleich: Bei Paarfamilien mit einem bzw. zwei Kindern liegt die SGB II-Quote bei 4,6 bzw. 5,8 Prozent.)

Bei Alleinerziehenden wie Mehrkindfamilien zeigt sich besonders deutlich, dass Sorge und Erziehung für Kinder nicht »nebenbei« erledigt werden können: Rahmenbedingungen fehlen, um eine auskömmliche Erwerbstätigkeit mit der Familienarbeit zu vereinen. Bei Alleinerziehenden kommt hinzu, dass Erwerbsarbeit und Sorgearbeit nicht unter zwei Erwachsenen aufgeteilt werden kann. Jedes zweite Kind in einer Ein-Eltern-Familie erhält zudem keinen, ein weiteres Viertel nicht den vollständigen ihm zustehenden Kindesunterhalt vom getrenntlebenden Elternteil.

Armutsverteilung in Deutschland

Ist die Kinder- und Jugendarmut in ganz Deutschland gleich hoch? Die Kinderarmut ist in Deutschland nicht überall gleich hoch, vielmehr zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Das belegt die Deutschlandkarte (Abb. 2), die den SGB II-Bezug von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in den Bundesländern für die Jahre 2014 und 2019 ausweist. Und auch innerhalb der Bundesländer gibt es große Differenzen – häufig geprägt durch ein Stadt-Land-Gefälle.

Erfahrungen

Wie erleben Kinder und Jugendliche in Deutschland Armut? In Armut aufzuwachsen, bedeutet für die betroffenen Kinder und Jugendlichen dauerhaft Mangel, Verzicht, Ausgrenzung und Beschämung. Seltener als andere Gleichaltrige haben sie zuhause einen Rückzugsort bzw. ruhigen Ort zum Lernen und einen Computer mit Internetzugang. Häufig sind sie in ihrer Mobilität eingeschränkt, können sich keine neue Kleidung kaufen oder etwas mit Freund/innen unternehmen, das Geld kostet, wie z.B. ins Kino gehen oder Eis essen. Auch können sie häufig keine Freunde nach Hause einladen, da kein Platz ist, um ungestört miteinander zu spielen oder zu reden. Die betroffenen Kinder können häufig nicht mal eine Woche mit ihrer Familie in den Urlaub fahren und nicht bei Klassenfahrten oder dem Schüleraustausch mitmachen. Zwar gibt es finanzielle Unterstützung für Schulaktivitäten, die Antragstellung ist aber oft beschämend, zudem decken die Mittel nicht alle anfallenden Kosten ab, wie zusätzlich benötigte Kleidung oder Verpflegungsgeld.

All dies schränkt Kinder und Jugendlichen tagtäglich in ihrem Alltag ein. Hinzu kommt, dass sie sich häufig für ihre Armut schämen, obwohl sie selbst nichts dafür können. So schlagen sie z.B. Einladungen zum Geburtstag aus, weil sie kein Geschenk haben oder selbst keinen Geburtstag feiern können. Sie erfinden Ausreden, warum sie nicht mit auf Klassenfahrt oder den Schüler/innenaustausch fahren oder nichts mit ihren Freunden unternehmen können. Auch werden sie häufiger als andere ausgegrenzt und erleben Gewalt.

Folgen

Welche Folgen hat Armut für das weitere Leben? Diese Erfahrungen wirken auch über das Hier und Jetzt hinaus. Sie führen dazu, dass sich von Armut betroffene junge Menschen in unserer Gesellschaft unsicherer und weniger zugehörig fühlen als andere Gleichaltrige. Geringeres politisches Engagement und geringere Wahlbeteiligung sind die Folgen. Arme Kinder und Jugendliche können nicht für die Zukunft sparen und haben damit weniger Handlungsperspektiven, sind häufiger von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen, neigen stärker zu riskantem Gesundheitsverhalten (Bewegungsmangel, Rauchen) und leiden häufiger unter sozialen und psychischen Belastungen.

Zwar besteht in unserer Gesellschaft der Glaube daran, dass junge Menschen sich durch gute Bildung in Zukunft aus Armut befreien können – doch dieser Weg ist von Beginn an steinig: Seltener als andere besuchen diese Kinder eine gute Kita, ihr Schulstart verzögert sich häufiger, sie wiederholen häufiger eine Klasse, erhalten schlechtere Noten und – sogar bei gleichen Leistungen – seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium. An Universitäten und Fachhochschulen sind junge Menschen aus armen Familien deutlich unterrepräsentiert. All diese Schwierigkeiten beschränken die Kindheit und Jugend der Betroffenen und wirken sich darüber hinaus auch auf ihre Chancen und Handlungsspielräume in der Zukunft aus.

Die Folgen von Armut spüren aber nicht nur die einzelnen Kinder und Jugendlichen, sondern die gesamte Gesellschaft: Die Kinderarmut von heute gefährdet in der Zukunft nicht nur unsere Wirtschaft und Sozialsysteme, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität unserer Demokratie.

Auswirkungen der Coronakrise

Welche Auswirkungen wird die Coronakrise auf Kinderarmut haben? Die aktuelle Coronakrise wird die Situation für Kinder, Jugendliche und ihre Familien weiter verschärfen und die Kinderarmut ansteigen lassen. Die wirtschaftlichen Folgen der Krise treffen Familien im unteren Einkommensbereich besonders stark. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass die Kinderarmut zunehmen wird. Zudem verschärft die Krise die ohnehin schon multiplen Probleme armer Eltern. Für sie und ihre Kinder fallen außerdem gewohnte Strukturen und Unterstützungsangebote weg: kostenfreies Mittagessen in Kita oder Schule, Vertrauenspersonen – seien es Freund/innen oder auch Sportrainer/innen, Lehrer*innen oder Erzieher/innen –, Spielplätze, Jugendzentren.

Die aktuellen Schul- und Kita-Schließungen werden zudem die bereits bestehende Bildungsungleichheit in Deutschland weiter verstärken. Die fehlende Ausstattung und die Wohnsituation lässt es in armen Familien vielfach kaum zu, dass die Kinder im Homeschooling gut lernen können. An ausreichenden Zimmern in der Wohnung fehlt es bei 47 Prozent der Familien im SGB II-Bezug, 13 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in diesen Familien haben keinen ruhigen Platz zum Lernen. Bei 24 Prozent dieser Kinder fehlt ein Computer mit Internet im Haushalt. Insgesamt wird es Familien aus gehobenen Einkommensschichten daher leichter fallen, ihre Kinder bei der Bewältigung des Schulstoffs zu unterstützen und digitale Möglichkeiten zu nutzen als Familien aus unteren Einkommensbereichen.

In der Debatte um den »Lockdown«, aber auch die Lockerungen der Beschränkungen, spielten die Bedarfe von Kindern nur eine untergeordnete Rolle – sie wurden vielmehr vor allem als »Verbreitungsherd« des Virus, als Anhängsel der erwerbstätigen Eltern oder in ihrer Rolle als Schüler/innen gesehen. Ihre eigenen Bedürfnisse als Kinder und Jugendliche – wie etwa fehlende Kontakte zu Freund/innen, Bewegungsdrang, Stress mit den Eltern in engen Wohnungen – spielten kaum eine Rolle. Auch wurden Kinder und Jugendliche bei der Suche nach guten Lösungen für Themen, die sie betreffen, nicht selbst einbezogen.

Die Coronakrise sollte also spätestens Anlass sein, sich intensiv mit dem Thema Kinder- und Familienarmut auseinanderzusetzen. Denn die Krise wird die Schwächsten in unserer Gesellschaft am stärksten treffen. Im Interesse der Kinder und Jugendlichen müssen deshalb gerade jetzt dringend wirksame Maßnahmen gegen Kinderarmut von der Politik ergriffen werden.

Fazit

Was tun gegen Kinderarmut? Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf gutes Aufwachsen und faire Bildungs- und Teilhabechancen. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, dieses Recht endlich einzulösen. Denn Kinder und Jugendliche tragen keine Schuld. Wir als Gesellschaft können etwas dagegen tun. Dazu muss die Politik aktiv werden, sich von bisherigen, wenig wirksamen und intransparenten Maßnahmen für Familien verabschieden und fünf Schritte gegen Kinder- und Familienarmut ergreifen:

  1. Wir müssen Kinder und Jugendliche selbst fragen, was für sie zu gutem Aufwachsen und Teilhabe – zu einer »normalen« Kindheit und Jugend in Deutschland – dazu gehört. Kinder und Jugendliche haben das Recht, als Expert/innen dazu gehört zu werden und sie haben eigene, spezifische Bedarfe und Interessen. Die Ergebnisse einer solche Befragung ist als Basis für eine kind- und jugendgerechte Bildungs-, Sozial-, Familien- und Kommunalpolitik unerlässlich. Je nach Alter sollten Kinder (bereits im Kita Alter ist das möglich)1 und Jugendliche in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Methoden in diese Befragung einbezogen werden.
  2. Auf dieser Grundlage müssen wir als Gesellschaft eine Debatte führen, was wir Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen wollen. Wenn es uns ernst damit ist, dass alle ein Recht auf gutes Aufwachsen und faire Bildung und Teilhabe haben, müssen wir ihnen auch die finanzielle Absicherung gewähren, die eine »normale oder durchschnittliche« Kindheit und Jugend ermöglicht. Diese finanzielle Absicherung sollte im Rahmen eines Teilhabegelds – einer Art Grundsicherung für Kinder – erfolgen. Anspruchsberechtigt für die Leistung sind die Kinder und Jugendlichen selbst. Mit steigendem Einkommen der Eltern wird die Leistung geringer, so dass gezielt arme Kinder und Jugendliche unterstützt werden.
  3. Die Beantragung des Teilhabegelds muss einfach und transparent sein. Daher sind Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche sowie für Eltern notwendig, die über die Rechte und Ansprüche informieren und bei denen die Leistung beantragt werden kann. Die aber auch bei Problemen und Sorgen beraten und Hilfen anbieten.
  4. Kinder und Jugendliche brauchen gute Kitas und Schulen, in denen sie sich wohl und sicher fühlen, sich ihren eigenen Stärken und Interessen entsprechend entwickeln und lernen können. Sie brauchen in den Institutionen Erwachsene, die sie ernst nehmen und beteiligen, die Zeit für sie haben, denen sie vertrauen und die bei Problemen helfen.
  5. Kinder und Jugendliche brauchen Zeit, Zuwendung und Fürsorge durch Erwachsene, mit zunehmendem Alter aber auch im Austausch mit ihren Peers. Zeit mit den Eltern, Geschwistern und der Familie sind ihnen sehr wichtig. Um diese Zeitspielräume zu eröffnen, ist ein Umdenken in der Arbeitswelt und eine gesellschaftliche Anerkennung von Fürsorgearbeit notwendig, die sich Väter und Mütter gleichberechtigt teilen.

Literatur

Andresen/Möller (2019): »Children’s Worlds+ – eine Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Gesamtauswertung«, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. Download unter: www.bertelsmann-stiftung.de/cwplus-gesamtauswertung
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2018): »Politik vom Kind aus denken. Kurzfassung – Konzept für eine Teilhabe gewährleistende Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche«, Gütersloh. Download unter: www.bertelsmann-stiftung.de/konzept-existenzsicherung-kurz
Laubstein et al. (2016): »Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche – Erkenntnisse aus empirischen Studien für Deutschland«, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. Download unter: www.bertelsmann-stiftung.de/folgen-kinderarmut
Lietzmann/Wenzig (2020, i.E.): »Materielle Unterversorgung von Kindern in Armut«, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

Fußnoten

1 Das belegt u.a. das Projekt »Kinder als Akteure in der Qualitätsentwicklung in Kitas«: Kinder können in die Weiterentwicklung einer guten Kita mit vielerlei Methoden eingebunden werden. Download unter: www.bertelsmann-stiftung.de/methodenschatz1und2.

Kita Autorin Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung in der Bertelsmann Stiftung

Antje Funcke

Kita Autorin Sarah Menne
Senior Projektmanagerin in der Bertelsmann Stiftung

Sarah Menne

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