Willkommenlehrkräfte
Recht & Verwaltung27 Mai, 2022

„Willkommenslehrkräfte leisten viel mehr als nur Spracharbeit!“

Best-practice Beispiele, Herausforderungen und Lösungsvorschläge für die erfolgreiche Leitung von Willkommensklassen

In Berlin gibt es zurzeit etwa 670 Willkommensklassen, in denen 7.380 zugewanderte Kinder und Jugendliche Deutsch lernen. Darüber, was in den Willkommensklassen gut läuft, wo die Stolpersteine liegen und wie man sie aus dem Weg räumen kann, hat sich Nissren Schäfer,1 eine Willkommenslehrerin an einer Berliner Schule, im Interview mit Anne Köster Gedanken gemacht.

Köster: Wie strukturieren sich die Willkommensklassen an Ihrer Schule?

Schäfer:
Im Dezember 2014 etablierte unsere Schule hier in Berlin die Willkommensklassen, für deren Gestaltung ich befristet als Lehrkraft angestellt bin. Eine Klasse besteht aus maximal 12 Schülerinnen und Schülern (SuS), die entsprechend ihres Lernfortschrittes eingegliedert werden. Ein Sozialpädagoge bereichert unser Team. Er ist vor allem für die Betreuung und Berufsberatung der SuS zuständig und übernimmt zusätzliche administrative Aufgaben, wie zum Beispiel die Ausstellung der Berlinpässe.

Köster: Wie setzt sich die Schülerschaft in Ihren Willkommensklassen zusammen?

Schäfer:
Unsere Willkommens-SuS sind Jugendliche im Alter von 16 bis 20 Jahren, die entweder ein drei-jähriges Aufenthaltsrecht bekommen haben oder sich noch im Asylverfahren befinden. Es handelt sich zum überwiegenden Teil um unbegleitete, minderjährige Geflüchtete, die gemeinsam in einem Jugendheim untergebracht sind. Einige leben auch mit ihren Familien in Gemeinschaftsunterkünften oder, in selteneren Fällen, in eigenen Wohnungen. Unsere SuS sind zum Beispiel aus Albanien, Mazedonien, dem Kosovo, Somalia, dem Kongo und Guinea. Seit dem Schuljahr 2015/16 kommen vermehrt junge Menschen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan zu uns. Neben den Geflüchteten unterrichten wir auch zugewanderte SuS aus Portugal, Polen und Vietnam.

Köster: Mit welchen Zielen geben Sie Willkommensunterricht?

Schäfer: 
Unser gemeinsames Ziel ist natürlich, dass alle Willkommens-SuS möglichst schnell im Deutschen die Niveaustufe B1 nach dem GER erreicht haben. Die jungen Erwachsenen besuchen die Willkommensklassen, weil sie unsere Sprache lernen wollen. Viele möchten anschließend eine Ausbildung beginnen oder einen Schulabschluss (nach)machen, um dann hier zu studieren. Unser Anspruch ist es, die SuS bestmöglich bei diesen Übergängen unterstützen. Zudem vermitteln wir ihnen den für das Leben in Deutschland relevanten Wortschatz und wichtiges Alltagswissen. Das fängt beim Verstehen der Speisekarte an und endet mit dem geübten Sichten von Jobanzeigen. Wir leisten also in den Willkommensklassen nicht nur Spracharbeit, sondern auch Integrationsarbeit, indem wir die SuS für unsere Kultur sensibilisieren. Dabei geht es ums Kennenlernen und nicht darum, dass sie so werden sollen wie wir oder dass wir ihnen etwas aufzwingen wollen. Solch eine Annäherung sollte so früh wie möglich passieren, um interkulturellen Missverständnissen und Konflikten von vorne herein den Nährboden zu entziehen und eine tolerante, offene Grundhaltung der SuS zu fördern. Wichtig ist auch, ihnen zu vermitteln, dass wir hier in Deutschland bestimmte Strukturen haben, die sie willkommen heißen, aber dass es auch andere Strukturen gibt, an die sie sich halten müssen, wie beispielsweise das pünktliche Erscheinen zum Unterricht.

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Köster: Können Sie mir Beispiele für kulturelle Unterschiede nennen, die Ihnen bei Ihrer Arbeit aufgefallen sind?

Schäfer:
Fast täglich werden solche Unterschiede deutlich, besonders bei unseren neuen Willkommens-SuS in der Anfänger-Gruppe. Zum Beispiel hat jemand im Französisch-Leistungskurs Aliou aus Guinea gefragt, was er in seiner Freizeit gerne mache. Diese Frage hat ihn überfordert. Erst nach der Erklärung der Lehrkraft, was Freizeit ist, verstand er, dass man ein Recht darauf hat, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, ohne zu arbeiten oder sich darüber Gedanken zu machen, wo man das nächste Essen oder Taschengeld her bekommt. In diesem Moment ist auch den anderen SuS im Kurz klar geworden, über was für ein Luxusgut – Freizeit – sie hier in Deutschland verfügen.

Viele unserer muslimischen SuS hat es auch verwundert, warum auf dem Alexanderplatz ein riesiger Rummel aufgebaut ist, mit Lichtern, Engelsfiguren und Tannenbäumen. Sie wussten zwar, dass es Weihnachten gibt, aber die Traditionen, die damit verbunden sind, waren ihnen nicht bekannt. Also haben wir das Thema Weihnachten behandelt, indem wir gemeinsam Plätzchen gebacken, Weihnachtsgeschichten gelesen und allen einen Adventskalender mit 24 Türchen geschenkt haben, die wir jeden Tag gemeinsam öffneten.

Eine Sache, die immer wieder aufkommt, wenn wir Neuzugänge muslimischen Glaubens haben, ist das Freitagsgebet. Unser Sonntag ist für die Muslime der Freitag. Das heißt, wenn ich am Freitag in der Anfänger-Gruppe im dritten Block unterrichte, dann merke ich schon, wie meine SuS etwas unruhig werden. Gegen 12 Uhr gehen die Handys mit dem Gebetsaufruf los. Dann möchten einige von ihnen gerne in die Moschee gehen.

Köster: Und wie kann man diese Situation Ihrer Meinung nach lösen?

Schäfer:
Das sind Dinge, mit denen sich die Schule, generell unser Schulystem und auch die Gesellschaft auseinandersetzen muss. Wie weit tolerieren und öffnen wir uns gegenüber anderen Religionen und den damit einhergehenden Bedürfnissen dieser Menschen? Wie weit können wir von unseren Strukturen abrücken? Wie weit kann und möchte das System Integrationsangebote machen? Das sind Fragen des interkulturellen Verständnisses, die durch die Willkommensklassen aufgeworfen werden und die der Staat, bzw. seine exekutiven Akteurinnen und Akteure in der Verwaltung und den Schulen, klären müssen. Ich glaube, dass die Berliner Schulleitungen mittlerweile selbst entscheiden dürfen, ob sie den dritten Block am Freitag frei geben. Unsere Schule macht es nicht.

Einerseits sehe ich ein, dass wir die Willkommens-SuS so schnell wie möglich an die hier üblichen Regeln heranführen sollen, denn später in den regulären Schulklassen oder in der Ausbildung müssen sie auch damit klarkommen. Je jünger sie sind, desto offener sind sie auch und desto leichter fällt es ihnen, sich an neue Systeme und Strukturen anzupassen. Da nicht nur die meisten arabischen Jugendlichen, sondern auch die aus den Balkan-Staaten muslimisch sind, wäre es schwierig, sie vom dritten Block zu befreien, denn dann würde ich nur noch mit drei christlichen Schülern im Unterricht sitzen. Da ich selbst mehrere Jahre im arabischen Raum gelebt habe, verstehe ich andererseits auch, dass die Freitagszusammenkunft in der Moschee für sie sehr wichtig ist. Neben der Peer-Group im Jugendheim ist das das einzige, was ihnen in diesem noch fremden Kontext Halt und Orientierung bietet. Sie treffen dort Gleichgesinnte, die schon länger hier in Berlin sind, können in ihrer Sprache reden und sich austauschen. Ich finde deshalb, dass es ein sinnvoller Kompromiss wäre, den dritten Block am Freitag auf einen anderen Tag zu verschieden. Dann würden wir an einem weiteren Wochentag bis 15 Uhr Unterricht haben und unsere 32 Wochenstunden garantieren.

Köster: Anhand Ihrer Schilderungen wird ersichtlich, dass die kulturellen Prägungen Ihrer SuS Sie in Ihrer Arbeit stets begleiten. Wie gehen Sie mit dieser Heterogenität um?

Schäfer:
Um der kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer gerecht zu werden, wenden meine Kolleginnen und ich Methoden des interkulturellen Lernens an. Diese basieren auf dem Prinzip, dass alle Sicht- und Lebensweisen gleichberechtigt mit einbezogen werden. Zum Beispiel zeigen wir unseren Willkommens-SuS nicht nur unsere Weihnachtstraditionen, sondern fordern sie dazu auf, von ihren Festen und Traditionen zu berichten. So garantieren wir eine multiperspektivische Darstellung der Themen. Neben der Heterogenität aufgrund der kulturellen Prägungen müssen wir auch den unterschiedlichen Wissensständen und Lerntempos unserer Jugendlichen innerhalb einer Lerngruppe gerecht werden. Deswegen arbeiten wir stark binnendifferenziert. Das heißt, wir geben denjenigen, die Inhalte und neue Strukturen schneller verstehen, schon komplexere Aufgaben und wiederholen die Grundlagen mit denjenigen noch einmal, die es noch nicht verstanden haben. Des Öfteren bilden wir auch Lerntandems, bei denen zwei SuS der gleichen Muttersprache mit unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten die neuen Inhalte besprechen und üben. Vor allem bei den Sprachübungen ist es allerdings nicht immer leicht, dem individuellen Förderbedarf gerecht zu werden.

Köster: Und welche Best-practice-Methoden haben sich bei den Willkommens-SuS bewährt?

Schäfer:
Was sehr gut läuft, ist das Stationenlernen. Jeden Freitag würfeln wir die SuS aus zwei Lerngruppen zusammen und lassen sie gemeinsam Aufgaben an verschiedenen Stationen, sprich Arbeitstischen, bearbeiten. So fördern wir den gruppenübergreifenden Austausch unserer Willkommens-SuS.

Wir finden es wichtig, schon so früh wie möglich Kontaktmöglichkeiten zu den SuS der Regelklassen unserer Schule zu schaffen. Deswegen entsenden wir regelmäßig unsere französischen Muttersprachlerinnen und Muttersprachler in die Leistungskursklassen, damit sie dort als Expertinnen und Experten die SuS beim Sprachenlernen unterstützen. Wir haben uns auch dafür stark gemacht, dass unsere Willkommens-SuS Sportunterricht haben. Sobald sie ein bestimmtes sprachliches Niveau erreichen, dürfen sie darüber hinaus für jeweils zwei Blöcke in der Woche im Regelunterricht hospitieren, wahlweise in Englisch, Mathe, Physik oder Chemie. Das bringt Abwechslung in ihren Schulalltag und nimmt ihnen die Angst vor dem Übergang in die regulären Klassen.

Außerdem treffen wir uns im Abstand von zwei Wochen für einen Unterrichtsblock mit SuS aus einer anderen Schule. Im Rahmen deren Wahlpflichtfaches „Lernen durch Engagement“ unterstützen diese Zehntklässlerinnen und Zehntklässler mit Migrationsgeschichte unsere SuS beim Deutschlernen.

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Köster: Welchen Stolpersteinen sind Sie in Ihrer täglichen Praxis schon begegnet?

Schäfer:
Der für mich persönlich größte Stolperstein war der Jobeinstieg. Da ich kein Referendariat gemacht und vorher noch nie an einer Schule gearbeitet habe, waren die Strukturen für mich komplett neu. Ich musste mich an Sachen wie Pausenaufsicht, Toilettenräume auf- und zuschließen, Postfächer regelmäßig überprüfen oder die korrekte Klassenbuchführung erst gewöhnen. Auch die Zusammenstellung der Unterrichtseinheiten war eine Herausforderung, denn der Senat hatte uns zu Beginn kaum Vorgaben oder Orientierungen zur Verfügung gestellt. Es gab lediglich eine kurze Übersicht zu den Inhalten, die wir nicht ansprechen sollen (Themen Politik, Religion und Familie), weil viele unserer SuS Familienmitglieder verloren oder in der Heimat zurückgelassen haben. Alles, was mit Biografien zu tun hat, ist auch schwierig, da die SuS durch ihre Flucht einen Bruch in ihrem Lebenslauf erleben und meist noch nicht wissen, wie es weitergeht. Wir arbeiten jetzt – nach langer Suche – mit dem Lehrbuch „Linie 1“ vom Klett-Langenscheidt-Verlag. Das Lehrwerk eignet sich gut für unsere Zielgruppe und bietet uns eine solide Arbeitsgrundlage. Leider gibt es bisher noch keine Ausgabe für das A2-Niveau oder höher. Das heißt, wir müssen nach dem Abschluss der Lernstufe A1 improvisieren oder vielleicht auf ein anderes Lehrwerk umsteigen.

Köster: Was wünschen Sie sich vom Berliner Senat, der Klärungsstelle und der Schulleitung, damit Sie optimal als Willkommenslehrerin arbeiten können?

Schäfer:
Vom Berliner Senat wünschen wir uns als Willkommenslehrkräfte eine zügige und gerechte Anerkennung der Praxisjahre als anrechenbare Zeiten für die Bestimmung der Erfahrungsstufen, damit wir entsprechend unserer Qualifikationen entlohnt werden. Wir finden es zudem unfair, trotz Praxiserfahrung im Bereich Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache (DaF/Z) und der gleichen geleisteten Arbeit, grundsätzlich mindestens eine Gehaltsstufe niedriger als die Schullehrkräfte eingestuft zu werden, weil wir kein Referendariat und Lehramtsstudium nachweisen können. Der Senat sollte DaF/Z als schulbildendes Fach formal anerkennen und es als Mangelfach ausschreiben, damit Willkommenslehrkräfte das Referendariat nachholen und als Quereinsteiger wie das reguläre Lehrpersonal entlohnt werden können.

Weiterhin haben wir in den letzten Monaten immer „kleckerweise“ neue SuS bekommen. Das war sehr schwierig für uns, denn wir mussten in der Anfänger-Gruppe mehrmals von vorne beginnen. Hier wünschen wir uns von der Klärungsstelle eine zeitlich sinnvoll getaktete Zuteilung der Neuankömmlinge. Für den Lernfortschritt ist es förderlicher, wenn die Gruppe kulturell und linguistisch heterogen ist, damit die Willkommens-SuS Deutsch sprechen müssen, um sich untereinander zu verständigen. Deswegen hoffen wir immer auf neue SuS aus möglichst vielen unterschiedlichen Herkunftsländern. Das funktioniert mittlerweile schon sehr gut.

Eine Sache, die mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist der Umgang mit traumatisierten SuS. Ich bin mir unsicher, wie ich mich verhalten soll, wenn Saeed mir erzählt, dass er immer verschläft und zu spät kommt, weil er bis drei Uhr wach liegt und an seinen Vater denkt. Ich weiß, dass er seinen Vater vor vier Jahren verloren hat. Ein anderer Fall ist Ghassem, der Konzentrationsschwierigkeiten hat und sich den anderen gegenüber aggressiv verhält. Der Sozialarbeiter berichtet, dass er abends oft übermäßig Shisha raucht, um seine Alpträume loszuwerden. Da würde ich mir von der Schulleitung mehr entsprechende Weiterbildungsangebote und den dafür nötigen zeitlichen Freiraum wünschen. Hilfreich wären auch regelmäßige Beratungsgespräche mit Schulpsychologinnen und -psychologen, bei denen ich mir professionellen Rat einholen kann.

Im vergangenen Schuljahr wurde die Arbeitsgruppe „Neuzugänge“ für die Berliner Willkommenslehrkräfte gegründet, in der wir uns untereinander austauschen und gemeinsam nach Lösungsansätzen suchen. Das gibt uns viel Rückenstärkung im Umgang mit unseren Willkommens-SuS.

Köster: Vielen Dank für das Gespräch

Interviewpartnerinnen:

Nissren Schäfer1

studierte Soziologie mit dem Schwerpunkt Organisationssoziologie (M.A.). Außerdem absolvierte sie eine Zusatzausbildung in Deutsch als Fremdsprache (DaF) am Goethe-Institut. Seit 2009 arbeitet sie als DaF-Lehrerin.

Anne Köster

ist Kultur- (B.A.) und interkulturelle Kommunikationswissenschaftlerin (M.A.). Sie promoviert an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zum Thema interkulturelle Schulentwicklung. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Migration und Integration, kulturelle Minderheitenrechte und Bildungsgerechtigkeit.
Kontakt: [email protected]

Bildnachweis:

Fußnoten:
1 Name von der Redaktion geändert.

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