Köster: Können Sie mir Beispiele für kulturelle Unterschiede nennen, die Ihnen bei Ihrer Arbeit aufgefallen sind?
Schäfer:
Fast täglich werden solche Unterschiede deutlich, besonders bei unseren neuen Willkommens-SuS in der Anfänger-Gruppe. Zum Beispiel hat jemand im Französisch-Leistungskurs Aliou aus Guinea gefragt, was er in seiner Freizeit gerne mache. Diese Frage hat ihn überfordert. Erst nach der Erklärung der Lehrkraft, was Freizeit ist, verstand er, dass man ein Recht darauf hat, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, ohne zu arbeiten oder sich darüber Gedanken zu machen, wo man das nächste Essen oder Taschengeld her bekommt. In diesem Moment ist auch den anderen SuS im Kurz klar geworden, über was für ein Luxusgut – Freizeit – sie hier in Deutschland verfügen.
Viele unserer muslimischen SuS hat es auch verwundert, warum auf dem Alexanderplatz ein riesiger Rummel aufgebaut ist, mit Lichtern, Engelsfiguren und Tannenbäumen. Sie wussten zwar, dass es Weihnachten gibt, aber die Traditionen, die damit verbunden sind, waren ihnen nicht bekannt. Also haben wir das Thema Weihnachten behandelt, indem wir gemeinsam Plätzchen gebacken, Weihnachtsgeschichten gelesen und allen einen Adventskalender mit 24 Türchen geschenkt haben, die wir jeden Tag gemeinsam öffneten.
Eine Sache, die immer wieder aufkommt, wenn wir Neuzugänge muslimischen Glaubens haben, ist das Freitagsgebet. Unser Sonntag ist für die Muslime der Freitag. Das heißt, wenn ich am Freitag in der Anfänger-Gruppe im dritten Block unterrichte, dann merke ich schon, wie meine SuS etwas unruhig werden. Gegen 12 Uhr gehen die Handys mit dem Gebetsaufruf los. Dann möchten einige von ihnen gerne in die Moschee gehen.
Köster: Und wie kann man diese Situation Ihrer Meinung nach lösen?
Schäfer:
Das sind Dinge, mit denen sich die Schule, generell unser Schulystem und auch die Gesellschaft auseinandersetzen muss. Wie weit tolerieren und öffnen wir uns gegenüber anderen Religionen und den damit einhergehenden Bedürfnissen dieser Menschen? Wie weit können wir von unseren Strukturen abrücken? Wie weit kann und möchte das System Integrationsangebote machen? Das sind Fragen des interkulturellen Verständnisses, die durch die Willkommensklassen aufgeworfen werden und die der Staat, bzw. seine exekutiven Akteurinnen und Akteure in der Verwaltung und den Schulen, klären müssen. Ich glaube, dass die Berliner Schulleitungen mittlerweile selbst entscheiden dürfen, ob sie den dritten Block am Freitag frei geben. Unsere Schule macht es nicht.
Einerseits sehe ich ein, dass wir die Willkommens-SuS so schnell wie möglich an die hier üblichen Regeln heranführen sollen, denn später in den regulären Schulklassen oder in der Ausbildung müssen sie auch damit klarkommen. Je jünger sie sind, desto offener sind sie auch und desto leichter fällt es ihnen, sich an neue Systeme und Strukturen anzupassen. Da nicht nur die meisten arabischen Jugendlichen, sondern auch die aus den Balkan-Staaten muslimisch sind, wäre es schwierig, sie vom dritten Block zu befreien, denn dann würde ich nur noch mit drei christlichen Schülern im Unterricht sitzen. Da ich selbst mehrere Jahre im arabischen Raum gelebt habe, verstehe ich andererseits auch, dass die Freitagszusammenkunft in der Moschee für sie sehr wichtig ist. Neben der Peer-Group im Jugendheim ist das das einzige, was ihnen in diesem noch fremden Kontext Halt und Orientierung bietet. Sie treffen dort Gleichgesinnte, die schon länger hier in Berlin sind, können in ihrer Sprache reden und sich austauschen. Ich finde deshalb, dass es ein sinnvoller Kompromiss wäre, den dritten Block am Freitag auf einen anderen Tag zu verschieden. Dann würden wir an einem weiteren Wochentag bis 15 Uhr Unterricht haben und unsere 32 Wochenstunden garantieren.
Köster: Anhand Ihrer Schilderungen wird ersichtlich, dass die kulturellen Prägungen Ihrer SuS Sie in Ihrer Arbeit stets begleiten. Wie gehen Sie mit dieser Heterogenität um?
Schäfer:
Um der kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer gerecht zu werden, wenden meine Kolleginnen und ich Methoden des interkulturellen Lernens an. Diese basieren auf dem Prinzip, dass alle Sicht- und Lebensweisen gleichberechtigt mit einbezogen werden. Zum Beispiel zeigen wir unseren Willkommens-SuS nicht nur unsere Weihnachtstraditionen, sondern fordern sie dazu auf, von ihren Festen und Traditionen zu berichten. So garantieren wir eine multiperspektivische Darstellung der Themen. Neben der Heterogenität aufgrund der kulturellen Prägungen müssen wir auch den unterschiedlichen Wissensständen und Lerntempos unserer Jugendlichen innerhalb einer Lerngruppe gerecht werden. Deswegen arbeiten wir stark binnendifferenziert. Das heißt, wir geben denjenigen, die Inhalte und neue Strukturen schneller verstehen, schon komplexere Aufgaben und wiederholen die Grundlagen mit denjenigen noch einmal, die es noch nicht verstanden haben. Des Öfteren bilden wir auch Lerntandems, bei denen zwei SuS der gleichen Muttersprache mit unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten die neuen Inhalte besprechen und üben. Vor allem bei den Sprachübungen ist es allerdings nicht immer leicht, dem individuellen Förderbedarf gerecht zu werden.
Köster: Und welche Best-practice-Methoden haben sich bei den Willkommens-SuS bewährt?
Schäfer:
Was sehr gut läuft, ist das Stationenlernen. Jeden Freitag würfeln wir die SuS aus zwei Lerngruppen zusammen und lassen sie gemeinsam Aufgaben an verschiedenen Stationen, sprich Arbeitstischen, bearbeiten. So fördern wir den gruppenübergreifenden Austausch unserer Willkommens-SuS.
Wir finden es wichtig, schon so früh wie möglich Kontaktmöglichkeiten zu den SuS der Regelklassen unserer Schule zu schaffen. Deswegen entsenden wir regelmäßig unsere französischen Muttersprachlerinnen und Muttersprachler in die Leistungskursklassen, damit sie dort als Expertinnen und Experten die SuS beim Sprachenlernen unterstützen. Wir haben uns auch dafür stark gemacht, dass unsere Willkommens-SuS Sportunterricht haben. Sobald sie ein bestimmtes sprachliches Niveau erreichen, dürfen sie darüber hinaus für jeweils zwei Blöcke in der Woche im Regelunterricht hospitieren, wahlweise in Englisch, Mathe, Physik oder Chemie. Das bringt Abwechslung in ihren Schulalltag und nimmt ihnen die Angst vor dem Übergang in die regulären Klassen.
Außerdem treffen wir uns im Abstand von zwei Wochen für einen Unterrichtsblock mit SuS aus einer anderen Schule. Im Rahmen deren Wahlpflichtfaches „Lernen durch Engagement“ unterstützen diese Zehntklässlerinnen und Zehntklässler mit Migrationsgeschichte unsere SuS beim Deutschlernen.