Öffentlichen Auftragsvergabe
Recht & Verwaltung14 September, 2021

Öffentliche Auftragsvergabe: Auslegung unklarer oder lückenhafter Leistungsbeschreibungen

Es kommt immer wieder vor, dass der Bieter eines öffentlichen Vergabeverfahrens sein Angebot auf der Grundlage einer unklaren oder lückenhaften Leistungsbeschreibung abgibt. Die regelmäßige Folge ist ein Streit der Vertragspartner darüber, welche Leistungen mit den vereinbarten Preisen abgegolten sind und ob dem Unternehmer ein Mehrkostenanspruch zusteht

Grundlagen der Vertragsauslegung 

Für die Frage, welche Leistungen mit den vereinbarten Preisen abgegolten werden, ist der Vertrag nach den §§ 133, 157 BGB auszulegen. Dabei ist das gesamte Vertragswerk zugrunde zu legen.

Im Ausgangspunkt ist der Wortlaut der Leistungsbeschreibung maßgeblich. Dieser ist so auszulegen, wie ein potenzieller Bieter ihn im Rahmen der öffentlichen Ausschreibung in objektiver Hinsicht verstehen musste (objektiver Bieterhorizont). Nach der Rechtsprechung des BGH ist hierbei auf einen verständigen und sachkundigen, mit den einschlägigen Beschaffungsleistungen vertrauten Bieter abzustellen (BGH, Urt. v. 03.04.2012 – X ZR 130/10).

Maßgeblich ist daher, wie ein branchenkundiger und mit der ausgeschriebenen Leistung durchschnittlich vertrauter Unternehmer, der über das für die Angebotsabgabe notwendige Fachwissen verfügt und die Leistungsbeschreibung sorgfältig liest, die Leistungsbeschreibung verstehen kann (OLG Frankfurt, Beschl. v. 05.11.2019 – 11 Verg 4/19 m. w. N.). Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass der Bieter die Angebotsbearbeitung lediglich kalkulationsbezogen vornimmt (OLG Naumburg, Urt. v. 18.08.2017 – 7 U 17/17, Rn. 42; OLG Celle, Urt. v. 31.01.2017 – 14 U 200/15).

Der sorgfältige Bieter muss daher in der Angebotsphase nicht sämtliche Vorgaben der ihm vorliegenden Ausschreibung planerisch und technisch nachvollziehen (BeckOGK/Mundt, 01.04.2021, BGB § 632 Rn. 267). Auch ein gewissenhafter Bieter wird vor Angebotsabgabe zum Beispiel keine umfangreiche Statik durcharbeiten (vgl. hierzu schon BGH, Urt. v. 25.06.1987 – VII ZR 107/86).

Auslegung der Leistungsbeschreibung

Bei der Auslegung der Leistungsbeschreibung ist zuerst auf die konkret im Streit stehende Position abzustellen. Die speziellen Angaben sind dann in Verbindung mit den anderen Angaben im Leistungsverzeichnis und den anderen Vertragsunterlagen unter Einbeziehung der technischen Normen und des Stands der Technik als sinnvolles Ganzes auszulegen (BGH, Beschl. v. 11.03.1999 – VII ZR 179/98; OLG Frankfurt, Beschl. v. 05.11.2019 – 11 Verg 4/19).

Bei öffentlichen Auftragsvergaben wird grundsätzlich immer die Geltung der VOB/B vereinbart. In diesem Fall ist nach § 1 Abs. 1 Satz 2 VOB/B auch die Allgemeinen Technischen Bestimmungen für Bauleistungen (VOB/C) Vertragsbestandteil. Deren Regelungen sind dann ebenfalls bei der Auslegung zu berücksichtigen (BGH, Urt. v. 27.07.2006 – VII ZR 202/04).

Außerdem ist es Sache des Auftraggebers, die Ausschreibung so weit zu präzisieren, dass alle Unternehmen ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten berechnen können; hierzu müssen in der Ausschreibung alle sie beeinflussenden Umstände festgestellt und in den Verdingungsunterlagen angegeben werden (BGH, Urt. v. 12.09.2013 - VII ZR 227/11 unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 VOB/A). Im Zweifel darf der Bieter die öffentliche Ausschreibung so verstehen, dass der Auftraggeber diesen Vorgaben der VOB/A gerecht werden will (sog. VOB/A-konforme Auslegung).

Besteht Prüf- und Aufklärungspflicht des Bieters?

Häufig wird im Streitfall vom Auftraggeber der Einwand erhoben, der Bieter hätte die Vergabestelle vor Angebotsabgabe auf Unklarheiten bzw. Lücken hinweisen und auf eine Aufklärung hinwirken müssen. Da er dies nicht getan habe, könne er nach Vertragsschluss ohnehin keine Vergütung von Mehrkosten verlangen. Diese häufig geäußerte Auffassung ist schlicht falsch.

Eine Hinweispflicht besteht nicht. Die Prüf- und Hinweispflicht nach § 4 Abs. 3 VOB/B besteht erst nach Vertragsschluss. Der Bieter ist daher gerade nicht verpflichtet, vor Abgabe seines Angebots auf Unklarheiten oder Lücken in der Leistungsbeschreibung hinzuweisen.

Auch auf die Vertragsauslegung hat es keinen Einfluss, dass der Auftragnehmer vor Angebotsabgabe bestimmte Unklarheiten oder Lücken nicht aufgeklärt hat (BGH, Urt. v. 12.09.2013 – VII ZR 227/11).

Die Möglichkeit des Bieters, Unklarheiten oder Lücken in der Leistungsbeschreibung vor Abgabe seines Angebots durch eine Bieteranfrage aufzuklären, besteht ausschließlich im eigenen Interesse des Bieters.

Der Bieter hat es hierdurch selbst in der Hand, für Klarheit zu sorgen. Er kann damit vermeiden, dass es später zum Streit kommt und er mit seinem eigenen Verständnis falsch liegt (bzw. im Falle eines späteren Rechtsstreits ein Gericht den Vertrag anders auslegt als er). Eine Pflicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, besteht für den Bieter nicht.

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Sind erkennbar notwendige Leistungen zwingend mit den vereinbarten Preisen abgegolten?

Der BGH hatte in der sog. „Brückenkappen-Entscheidung“ bzw. „Konsoltraggerüst-Entscheidung“ (BGH, Urt. v. 28.02.2002 – VII ZR 376/00) die Klage eines Unternehmers auf Zahlung einer Zusatzvergütung für die Erstellung eines Konsoltraggerüsts abgewiesen. Nach der Leistungsbeschreibung hatte der im Rahmen einer öffentlichen Auftragsvergabe beauftragte Unternehmer überhängende Brückenkappen einer Autobahn zu betonieren. Zur Ausführung dieser Arbeiten benötigte er zwingend ein Konsoltraggerüst, um die Schalung der überhängenden Brückenkappen abzustützen. Die Herstellung des Konsoltraggerüsts war nicht gesondert ausgeschrieben.

In seinem Urteil stellte der BGH fest, dass aus der maßgeblichen Sicht des potentiellen Bieters die Herstellung der Brückenkappen ohne eine Abstützung von deren Unterseite nicht möglich sei. Daher umfasse nach dem objektiven Bieterhorizont die ausgeschriebene Bauleistung (Herstellung der Brückenkappen) gleichzeitig auch die hierfür zwingend notwendige Herstellung des Konsoltraggerüsts. Auf die Unterscheidung in den DIN- Vorschriften (VOB/C) zwischen Nebenleistungen und Besonderen Leistungen komme es daher nicht an.

Diese Entscheidung wird bis heute immer wieder von verschiedenen Gerichten zur Begründung herangezogen, weshalb der Auftragnehmer für erkennbar notwendige Leistungen, die nicht gesondert ausgeschrieben waren, keine zusätzliche Vergütung verlangen kann.

Prof. Dr. Rolf Kniffka, Vorsitzender Richter des für Baurecht zuständigen VII. Zivilsenats a. D., hat die „Brückenkappen-Entscheidung“ bzw. „Konsoltraggerüst-Entscheidung“ in einem Aufsatz sogar als „jedenfalls in der Begründung fatale Fehlentscheidung“ bezeichnet (Kniffka, BauR 2015, 1893 „Irrungen und Wirrungen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung von Bauverträgen“ ). Richtig ist: Alleine der Umstand, dass eine Leistung notwendig ist, führt nicht automatisch dazu, dass sie zu den vertraglich vereinbarten Preisen erbracht werden muss (so schon Kniffka, BauR 2015, 1893, 1899 unter Hinweis auf § 2 Abs. 6 VOB/B).

Tatsächlich hat sich der BGH in einer späteren Entscheidung (Urt. v. 27.07.2006 – VII ZR 202/04) von seiner „Brückenkappen-Entscheidung“ bzw. „Konsoltraggerüst-Entscheidung“ ausdrücklich distanziert. Er hat dabei klargestellt, dass – entgegen der Begründung in der vorangegangenen Entscheidung – für die Vertragsauslegung insbesondere auch auf die Allgemeinen Technischen Bestimmungen für Bauleistungen (VOB/C) und die dort getroffene Unterscheidung zwischen Nebenleistungen und Besonderen Leistungen abzustellen ist.

Abgrenzung von Nebenleistungen und Besonderen Leistungen am Beispiel von Traggerüsten auf der Grundlage der Allgemeinen Technischen Bestimmungen für Bauleistungen (VOB/C)

Nebenleistungen sind nach den Allgemeinen Technischen Bestimmungen für Bauleistungen (VOB/C) mit den vereinbarten Preisen abgegolten. Für Besondere Leistungen kann der Auftragnehmer eine zusätzliche Vergütung verlangen. Die Abgrenzung zwischen Nebenleistungen und Besonderen Leistungen nach der VOB/C wird am Beispiel von Traggerüsten veranschaulicht.

In der für Betonarbeiten maßgeblichen DIN 18331, die zu den Allgemeinen Technischen Bestimmungen für Bauleistungen (VOB/C) gehört, wird unterschieden zwischen Traggerüsten der Bemessungsklasse A und der Bemessungsklasse B. Traggerüste der Bemessungsklasse A sind nur gegeben, wenn alle der folgenden vier Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sind (ansonsten ist die Bemessungsklasse B anzuwenden):

  1. Die Querschnittsfläche der Deckenplatten darf 0,3 m² je Meter Breite der Deckenplatte nicht überschreiten.
  2. Die Querschnittsfläche der Träger darf 0,5 m² nicht überschreiten.
  3. Die lichte Spannweite der Träger und Deckenplatten darf 6,0 m nicht überschreiten.
  4. Die Höhe bis zur Unterseite des zu errichteten Bauteils muss weniger als 3,5 m betragen.

Falls ein Traggerüst der Bemessungsklasse B vorliegt, handelt es sich nach der DIN 18331 (Betonarbeiten), Abschnitt 4.2.3, um eine Besondere Leistung, die zusätzlich zu vergüten ist.

Letztes „Auslegungsmittel“: VOB/A-konforme Auslegung

Falls die Auslegung der vertraglichen Regelungen (einschließlich der VOB/C) kein klares Ergebnis bringt, kommt bei Verträgen, die im Rahmen einer öffentlichen Auftragsvergabe vergeben worden sind, die sog. VOB/A-konforme Auslegung zum Zuge. Danach darf der Bieter im Zweifel davon ausgehen, dass der öffentliche Auftraggeber sich an die Vorschriften der VOB/A halten will.

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf der Bieter die öffentliche Ausschreibung als den Anforderungen der VOB/A entsprechend verstehen, wenn es bei einer nicht eindeutigen Leistungsbeschreibung mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt (BGH, Urt. v. 09.01.1997 – VII ZR 259/95). Danach darf der Bieter insbesondere davon ausgehen, dass die Leistung eindeutig und erschöpfend beschrieben ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A) und ihm kein ungewöhnliches Wagnis auferlegt werden soll (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A).

Kann also ein Leistungsverzeichnis beispielsweise unter anderem auch so verstanden werden, dass dem Bieter kein ungewöhnliches Wagnis zugemutet wird, darf der Bieter die Ausschreibung in diesem Sinne verstehen (BGH, Urt. v. 09.01.1997 – VII ZR 259/95).

Autor

Claus Rückert

Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht in der auf das Baurecht spezialisierten Kanzlei Ulbrich § Kollegen mit Sitz in Würzburg.

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