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Recht & Verwaltung29 Oktober, 2021

Digital unterstützter Unterricht in Präsenz und Distanz

Philippe Wampfler | Institut für Erziehungswissenschaften, Universität Zürich

Digital unterstützter Unterricht in Präsenz und Distanz

Was bedeutet Digitalisierung in Bezug auf schulisches Lernen generell und konkret für den Unterricht in Distanz oder in Wechselmodellen? Im Beitrag werden sieben Entwicklungspotenziale aufgezeigt, welche sich durch die Möglichkeit des Unterrichts mit digitalen Medien ergeben. Dabei stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz gestaltet wird und welche Voraussetzungen in Bezug auf Kompetenz und Lernbeziehungen gegeben sein müssen, damit diese Regulierung gelingt.
Philippe Wampfler

Was meint »Digitalisierung«?

Digitalisierung ist ein ungenauer Begriff, der einen Übergang von analoger Technologie zu digitaler meint. Er bezieht sich auf mindestens vier unterschiedliche Prozesse, die auf unterschiedlichen Ebenen ablaufen. Alle sind für Schule und Unterricht relevant

  1. Digitale Endgeräte und digitale Software zusätzlich zu oder als Ersatz für nicht-digitale Technik nutzen.
  2. Der Leitmedienwechsel (vgl. die Darstellung dazu in Beat Döbelis Buch »Mehr als 0 und 1«), der dazu führt, dass digital vorliegende Informationen und digitale Plattformen primäre Formen für Publikation und Rezeption von Medien darstellen und das Netz so zum Leitmedium wird, nachdem dieses vorher Bücher waren.
  3. Die digitale Transformation verstanden als eine Veränderung, Entwicklung oder Disruption vieler gesellschaftlicher Prozesse: Berufe, Mobilität, Bildung, Wirtschaft, Freizeit etc. – alles ist von dieser Umwälzung betroffen.
  4. Die »Kultur der Digitalität« (Felix Stalder) verstanden als gesellschaftlicher Umgang mit digitalisierten Medien, insbesondere in Bezug auf Kollaboration (Stalder: »Gemeinschaftlichkeit«), Verweise und Verlinkungen (Stalder: »Referenzialität«) und die Nutzung von Programmen (Stalder: »Algorithmizität«). Zusätzlich ist entscheidend, dass es sich um einen interaktiven und interaktionsorientieren Umgang mit Medien handelt. 

Für den Unterricht bedeuten diese vier Ebenen Unterschiedliches 

  1. Aus der Nutzung digitaler Endgeräte ergibt sich die Frage, wie Unterricht und Didaktik darauf reagieren, dass Schülerinnen und Schüler digitale Endgeräte nutzen, damit z.B. Zusammenarbeit und Beamer steuern können, deren Projektionen Wandtafeln ersetzen oder ergänzen?
  2. Erscheinen Medien zuerst und hauptsächlich im Netz, dann stellt sich die Frage, wie ein zeitgemäßes Lehrmittel aussieht, wie in Lernsituationen auf digitale Ressourcen zugegriffen werden kann und soll.
  3. Wie können Schulen Phasen des Distanz- oder Wechselunterrichts gestalten? Wann finden Lernereignisse vor Ort statt, wie interagieren Lehrende mit Lernenden, wie nah oder distanziert können Schülerinnen und Schüler gemeinsam lernen? Was Schule leisten soll, also auf welche Aufgaben sie vorbereitet und wie sie Kompetenzaufbau ermöglicht, hängt vor allem von gesetzlichen Vorgaben ab. Verändert sich z.B. zukünftig durch Homeoffice die berufliche Arbeit, dann kann das auch Auswirkungen auf die Gestaltung der schulischen Inhalte haben: Lernende müssten dann u.a. Arbeitstechniken erlernen, die im Home-Office gefragt sind.
  4. Die Kultur der Digitalität wird auch von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften gelebt – wie lässt sich Unterricht gestalten, der Zusammenarbeit einfordert, den Bezug von Algorithmen erlaubt und reflektiert und Verweisstrukturen bewusst einsetzt?

Diese vier Aspekte sind zudem komplex verbunden: Aus 4. erfolgt z.B. die Einsicht, dass etablierte Prüfungsformen obsolet sind, weil sie nicht mit einer Kultur der Digitalität zu vereinbaren sind – während die Nutzung digitaler Endgeräte (1.) gleichzeitig zum Problem führt, dass Lernende so nicht nur im Netz Informationen nachschlagen, sondern auch mit anderen Personen kommunizieren können. Was aufgrund des Leitmedienwechsels (2.) durchaus sinnvoll erscheint und sich mit in der Arbeitswelt relevanten Kompetenzen verbinden lässt (3.). Diese Übersicht ist für ein erstes Verständnis dessen wichtig, was sich im Unterricht ändert, wenn dieser mit digitalen Endgeräten, während der digitalen Transformation erfolgt und den Leitmedienwechsel wie auch die Kultur der Digitalität berücksichtigt.

Digitale Medien und Unterricht

Was digitale Medien für den Unterricht bedeuten, lässt sich in drei Aspekte unterteilen:

Unterrichtsorganisation und –kommunikation

Während der Zeit des Distanz- und Wechselunterrichts haben viele Schulen begonnen, den Unterricht über eine Lernmanagementsoftware zu organisieren und die Kommunikation über den Unterricht in Chat-Formate zu verlagern. Das erlaubt Schülerinnen und Schülern, von überall und irgendwann darauf zuzugreifen. Hausaufgaben, Vereinbarungen, Fragen/Antworten und andere wichtige Information werden so auf einer digitalen Schulplattform festgehalten, die sich leicht mit weiteren Kommunikationsaufgaben rund um die Schule verbinden lassen. 

Digital vorliegende Fachinhalte wahrnehmen

Texte erscheinen in digitaler Form, auch Sachtexte und wissenschaftliche Arbeiten. Parallel dazu entstehen im Wissenschaftsjournalismus und in der Wissenschaftskommunikation Visualisierungen, Modelle, Daten, Computersimulationen, die darauf ausgelegt sind, digital rezipiert zu werden. Unterricht muss es möglich machen, solche Fachinhalte wahrzunehmen und zu bearbeiten, wenn sie zum Lehrplan und zur Kompetenzentwicklung der Lernenden passen.

Digitale Lernprodukte herstellen

Projektunterricht und anderen offene Lernformen fokussieren oft auf die Arbeit an Lernprodukten, die viele Lernaktivitäten intensiviert. Digitale Lernprodukte haben eine Reihe von Vorzügen: Sie lassen sich leicht überarbeiten, teilen und publizieren. Sie entsprechen den Mediennutzungsgewohnheiten von Jugendlichen und schaffen Möglichkeiten, Medienformen zu kombinieren, also Töne, Bilder, Videos und Texte aufeinander zu beziehen. Und sie sind eine Vorbereitung auf eine Reihe beruflicher Aufgaben, bei der der produktive Umgang mit digitalen Medien und Verfahren eine Rolle spielt. Diese drei Aspekte erhöhen zunächst die Komplexität, weil sie andere Lernformen nicht ersetzen, sondern ergänzen oder in sich aufnehmen. Auch wenn Schülerinnen und Schüler sich mit digital vorliegenden Fachinhalten beschäftigen oder Lernprodukte digital erstellen – dann müssen sie grundlegende Fertigkeiten beherrschen, über Orientierungswissen verfügen, Fremdsprachen verstehen etc. Digitale Unterrichtsorganisation ersetzt eine Lern- und Schulkultur, Disziplin, Respekt und soziales Verhalten nicht, sondern eröffnet eine zusätzliche Plattform, auf denen Umgangsformen erprobt und eingeübt werden müssen. 

Eine Sicht auf neue Möglichkeiten im Unterricht ergibt sich dann, wenn der mögliche Kontrollverlust oder die Verantwortung der Lernenden für ihr Lernen in den Blick rücken. Lautet die verbreitete Haltung in Bezug auf die drei erwähnten Aspekte des digitalen Unterrichts heute »Grundlagen vor digitalem Lernen«, so würde der Perspektivenwechsel dazu führen, »Grundlagen beim digitalen Lernen« erwerben zu lassen. Eine Lehrkraft muss so nicht zuerst dafür sorgen, dass Kinder Grundfertigkeiten beherrschen, bevor sie sich im Netz digital betätigen – sondern würden sie dabei begleiten, mit digitalen Medien Grundfertigkeiten aufzubauen und zu verbessern.

Entwicklungspotenziale für Unterricht

Die im Folgenden umrissenen Möglichkeiten für eine Entwicklung des Unterrichts ergeben sich aus den oben beschriebenen Zusammenhängen. Sie stellen eine nicht abgeschlossene Liste dar, die sich heute schon erweitern ließe – aber in der vorliegenden erahnen lässt, wie stark der Einfluss der digitalen Transformation auf den Unterricht sein wird.

Von der Wissensvermittlung zur Wissensaneignung

Spätestens seit dem Leitmedienwechsel ist Wissen keine knappe Ressource mehr. Kinder wissen schon in der Grundschule, dass sie mit Suchmaschinen Informationen und Bilder im Netz finden können. Unterricht kann sich deshalb von der Aufgabe lösen, Stoff vermitteln zu müssen. Schülerinnen und Schüler lernen, wie sie mit Quellen im Netz umgehen können, reflektieren ihr Wissensmanagement, bauen persönliche Lernnetzwerke im Netz auf und sind so in der Lage, sich Wissen anzueignen. Unterricht dient dazu, Strategien und Verfahren zu üben, die lebenslanges Lernen ermöglichen.

Unterricht außerhalb des Schulzimmers

Die Distanz- und Wechselunterrichtsphasen seit dem Frühjahr 2020 haben gezeigt, dass Unterricht auch dann möglich ist, wenn Schülerinnen und Schüler sich nicht im Schulhaus befinden.Die Gestaltung ist aber von einer Reihe von Voraussetzungen abhängig: Infrastruktur und Gesetze sind zwei wichtige Faktoren, Lernbeziehungen und die nötigen Kompetenzen die anderen: Auch wenn digital moderierte Interaktionen möglich sind, müssen Lehrkräfte mit ihren Schülerinnen und Schülern in einem möglichst direkten Kontakt stehen, belastbare Beziehungen aufbauen, in denen es möglich ist, zueinander Vertrauen zu fassen und gemeinsam herausfordernde Lernleistungen zu erbringen. Digitale Technik erlaubt es, Lernräume neu zu denken. Und zwar in zwei Richtungen: Lernende können an einem Unterricht teilnehmen, wenn sie nicht im Klassenzimmer präsent sind. So können sie Phasen des Unterrichts in anderen Räumen eines Schulhauses oder an dritten Orten wie eben auch im häuslichen Umfeld absolvieren. Befinden sie sich im Schulzimmer, können sie mit Augmented- oder Virtual-Reality-Technik Orte und Zusammenhänge erkunden, die sich physisch nicht im Schulzimmer befinden.

Zusammenarbeit

Gruppenarbeiten finden heute in bestimmten Phasen des Unterrichts statt, sind aber in Prüfungssituationen nicht oder bei Hausaufgaben nur zum Teil möglich und medial nicht einfach umzusetzen. In digital gestützten Settings ist Kollaboration ein Standard: Vom Text über die Datenverarbeitung und von der Präsentation bis zum Mindmap gibt es Software, die es Lernenden erlaubt, Lernprodukte gemeinsam zu gestalten. Zusammenarbeit wird in einer Kultur der Digitalität zum Standard, ist keine spezielle Phase des Unterrichts, sondern seine Basis. Das erfordert aber auch ein Verständnis für kollaborative Arbeitsphasen und die dafür nötigen Kompetenzen, die im Unterricht aufgebaut werden müssen. Der Unterricht muss hier Wissen über Zusammenarbeit vermitteln und Kindern mit sinnvollen Routinen erlauben, Kompetenzen schrittweise aufzubauen, die in vielen anderen Bereichen wertvoll sind. Dazu gehören etwa Techniken zur Ideenfindung, Arbeitsteilung oder zur Bewältigung von Konflikten.

Projektlernen

Das zentrale Modell für Unterricht in einer Kultur der Digitalität ist digital gestützter Projektunterricht, wie ihn Lisa Rosa auf shiftingschool.wordpress.com in mehreren Beiträgen entwickelt hat. Die Lernvorhaben gehen von Fragen der Lernenden aus und münden in einem Lernprodukt, das der Lerngruppe präsentiert wird. Projektlernen zeigt deutlich, wie wesentliche Kompetenzen dann erworben werden, wenn für Lernende klar ist, wozu sie Kompetenzen brauchen und was sie damit erreichen können.

Digitale Portfolios

Portfolios versammeln Kompetenznachweise. Sie sind die Antwort auf die Frage, wie Lernen sichtbar gemacht werden kann, wenn Prüfungen dereinst wegfallen. Wer lernt, dokumentiert Lernschritte im Portfolio, sammelt dort auch Lernprodukte und wichtige Ressourcen aus dem Netz. Digitale Hilfsmittel machen es sehr einfach, ein Lernportfolio anzulegen. Blogs eignen sich beispielsweise dafür hervorragend.

Adaptive Lernmanagementsysteme

Geht es um feststehende Verfahren, die Lernende beherrschen sollten, dann können sie diese mit einer Software erlernen, die sich adaptiv an ihren Lernstand anpasst. So bearbeiten sie Aufgaben und Lernschritte, die ihrem aktuellen Fähigkeitenstand angepasst sind. Apps für den Fremdsprachenerwerb wie z.B. das auch kostenlos verwendbare Duolingo helfen so, den Wortschatz systematisch zu erweitern und Grammatik fast beiläufig zu lernen. Im Unterricht kann darauf zurückgegriffen werden, um individualisiert Grundfertigkeiten üben zu können.

Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz kann Muster sehr gut erkennen. Im Unterricht wird das in absehbarer Zukunft für Feedback genutzt werden können: Wer hat in einem Unterrichtsgespräch wie oft gesprochen? Wer zeigt häufig auf, kommt aber selten dran? Wer verwendet einen immer breiteren Wortschatz? Diese Dinge lassen sich vermessen und in Rückmeldungen an Lehrkräfte umformen, die ihnen helfen, ihren Unterricht systematisch zu verbessern. Genauso werden Tools Lernenden in standardisierten Bereichen Hinweise geben können, wie sie wirksamer und nachhaltiger lernen können. Dabei dürfen wir nicht an Roboter denken – der richtige KI-Bezugspunkt ist eine Schlaf- oder Jogging-App, die unsere Aktivitäten in einfachen Verfahren stur vermisst und mit den Daten hilft, Routinen zu brechen oder zu entwickeln.

Fazit

Die Gestaltung von Nähe und Distanz wird eine zentrale Herausforderung für den Umgang mit Digitalität im Unterricht bleiben. Die Bedingung für das Gelingen der verschiedenen Formen von individualisiertem Distanzunterricht sind tragfähige Beziehungen zwischen Lernenden und zwischen Lernenden und Lehrenden. Nur wenn in Präsenz eine sozial abgestützte Lernkultur erarbeitet wird, verfügen Lernende in digitalen Umgebungen über die nötigen Korrektive und Lernnetzwerke, um Lernerfahrungen einordnen und Rückschläge bewältigen zu können. 

Literatur:

Döbeli, Beat (2016): Mehr als 0 und 1 – Schule in einer digitalisierten Welt.

Bern: HEP. Rosa, Lisa (2021): shift. Weblog zu Schule und Gesellschaft. Online: shiftingschool.wordpress.com

Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt a.M. Philippe Wampfler

Philippe Wampfler

Institut für Erziehungswissenschaften, Universität Zürich


Philippe Wampfler

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