Begabung und Talente
Recht & Verwaltung20 Oktober, 2021

Begabung und Talent werden oft durch Armut verdeckt

Michael Voges und Burkhard Jungkamp im Gespräch mit Prof. Aladin El-Mafaalani 

Kinder mit ungleichen Chancen in eine hochkomplexe und ungewisse Zukunft zu entlassen, sei schlichtweg ungerecht, sagt Prof. Aladin El-Mafaalani, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück. Zwar könne Bildung allein die großen Probleme unserer Gesellschaft nicht lösen, aber ohne eine bessere Unterstützung der benachteiligten Kinder und Jugendlichen gehe es nicht, auch nicht ohne eine gezielte Förderung der besonders leistungsfähigen Schülerinnen und Schüler.

Burkhard  Voges Aladin El-Mafaalani

Herr Professor El-Mafaalani, mit der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte haben sich Bildungsniveau und Teilhabechancen der Bevölkerung deutlich erhöht. Gleichwohl beobachten wir eine wachsende Bildungsungleichheit und zunehmende soziale Spaltungen in der Gesellschaft. Wie passt das zusammen?

Das sind in Wirklichkeit teilweise asynchrone Prozesse. Insgesamt sind die Bildungschancen für alle Bevölkerungsgruppen gestiegen, aber für diejenigen, die von diesen gestiegenen Chancen nicht profitieren konnten, ein relativ kleiner Teil, hat sich die ohnehin vorhandene Benachteiligung deutlicher verstärkt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Und das ist ein Effekt, den man in fast allen Ländern beobachten kann, wo es eine solche Bildungsexpansion gegeben hat. Das heißt, es scheint ein typisches Problem zu sein. Wollte man in diesem Zusammenhang Gerechtigkeitsaspekte stärker berücksichtigen, müsste man eigentlich den privilegierteren Klassen Ressourcen nehmen und diese den Benachteiligten geben. Man müsste umverteilen. Das würde zu Konflikten führen und politisch ein hohes Risiko bedeuten. Und deswegen scheint es in allen Gesellschaften so zu sein, dass man eher den Weg geht zu expandieren, also allen mehr Chancen geben, auch den privilegierten Gruppen.

Die Beseitigung von Ungerechtigkeiten, sagen Sie, müsse dringend in Angriff genommen werden. Neuere Forschung bestätigt, dass die familiäre Herkunft eines Kindes in starkem Maße über den Bildungserfolg entscheidet, den Grund legen vor allem die ersten Lebensjahre. Schon vor Eintritt in die Schule sind die Unterschiede so groß, dass kompensatorische Bildung den Schereneffekt allenfalls begrenzen, aber nicht relevant verringern kann. Was können Bildungspolitik und Schulen angesichts dieser Befundlage tun, um Bildungsbenachteiligung zu reduzieren?

Wer Bildungsbenachteiligung wirksam reduzieren will, muss früh ansetzen und den Schwerpunkt eben auf die ersten Bildungsphasen legen, auf Kita und Grundschule. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen allerdings, dass der halbherzige Ausbau der Ganztagsschule bislang fast überhaupt nicht zur Verringerung von Bildungsungleichheit beigetragen hat.

Heißt das, wir brauchen vor allem eine völlig andere Gestaltung des Ganztags, zum Beispiel den gebundenen Ganztag für alle?

Gebundener Ganztag wäre eine gute Möglichkeit. Aber alle Kinder dazu zu verpflichten, ist verfassungsrechtlich schwierig. Nur: Wenn der gebundene Ganztag nicht überall durchzusetzen ist, dann muss eben der offene Ganztag ganz anders ausgestaltet werden. Wichtig ist eine Neugestaltung der Ganztagsgrundschule insgesamt. Jetzt, wo der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule eingeführt wird und wo gewaltige Summen in den Ausbau investiert werden, gerade jetzt müssen wir die Weichen stellen und dafür sorgen, dass die Ganztagsschule so konzipiert wird, dass sie zur Verbesserung von Bildungschancen beiträgt – auch und vor allem der Bildungsbenachteiligten.

Zugleich fordern Sie einen stärkeren Ausbau der Begabungsförderung und der Exzellenzförderung für außergewöhnliche Spitzenleistungen. Ist das schlüssig? Müssten angesichts der zunehmenden Bildungsungleichheit Bildungspolitik und Schulen nicht alle Kraft auf die sog. »Bildungsverlierer« konzentrieren? Anders gefragt: Widerspricht nicht Begabtenförderung dem Gebot der Bildungsgerechtigkeit?

Das ist eine rhetorische Frage. Der Grund, warum wir in Deutschland in Hinblick auf Begabungsförderung schlechter dastehen als andere Länder, ist, dass wir die Förderung von Benachteiligten und die Förderung von Begabungen häufig als Gegensätze empfinden. Dabei hat unser Bildungssystem gleichzeitig drei Kernaufgaben. Zunächst geht es um Defizitausgleich, bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche, die Mindestkompetenzen nicht erreichen, müssen besonders gefördert werden. Der zweite Schwerpunkt ist die Begabungsförderung. Begabungen verstehe ich als etwas, was jedes Kind hat. Diese Begabungen gilt es zu identifizieren und zu fördern. Erst dann sind wir in der Lage, die dritte Herausforderung zu bewältigen, die Exzellenzförderung. Anders als Begabung ist Exzellenz etwas, über das nicht jedes Kind, jeder Jugendliche verfügt. Hier handelt es sich um außergewöhnliche Spitzenleistungen.Wenn wir annehmen, dass die Fähigkeit zur Exzellenz in allen Schichten gleich verteilt ist, dann haben wir hier das größte Potenzial bei den benachteiligten Gruppen. Noch einmal: Zuerst müssen krasse Defizite ausgeglichen und die Begabungen aller Kinder und Jugendlichen entdeckt und gefördert werden. Oft verdeckt Armut Begabung und Talent, so dass es schwierig ist, sie zu identifizieren. Wenn das gelingt, dann kommt man irgendwann auch zu deutlich mehr Spitzenleistungen.

Schulische Begabungsförderung zielt heute nicht mehr nur auf die kognitiven, sondern auch auf die motivationalen und sozialen Potenziale von Kindern und Jugendlichen. Die Bewältigung künftiger Herausforderungen wie Klimawandel, soziale Ungleichheit, Sicherung der Demokratie, Digitalisierung, globale Migration gelingt nur, wenn möglichst alle Begabungen entdeckt und entfaltet werden und Menschen bereit sind, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Was muss sich in unseren Schulen ändern, damit diese möglichst alle Potenziale entdecken und fördern, besonders auch die von Kindern und Jugendlichen aus unteren Schichten und schwierigen Lebenslagen?

Deshalb wäre ein neugestalteter Ganztag so wichtig. Denn viele Kompetenzen werden durch den Regelunterricht nicht oder nicht gut genug gefördert. Bei Aktivitäten in Musik und Sport zum Beispiel spielen heutzutage die Familien eine wichtige Rolle. Wichtig ist, dass es solche Angebote in der Schule selbst gibt. Jedes Kind sollte hier die Möglichkeit erhalten, ein Musikinstrument zu erlernen und Sport zu treiben. Das ist für die persönliche Entwicklung von Menschen, aber auch für die gesamte Bildungsbiografie von immenser Bedeutung. Selbstdisziplin und Motivation werden gestärkt, wenn allein und gemeinsam mit anderen geübt und geprobt wird. Ehrgeiz entwickeln – für sich, für das Orchester, für die eigene Mannschaft, im Team zu kooperieren und der Konkurrenz fair zu begegnen, darum geht es. Musik und Sport entwickeln und trainieren Soft Skills, die für das gesamte Leben prägend sind. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, auf den Schulen vermehrt achten müssen, wenn besonders die Potenziale von Kindern und Jugendlichen aus unteren Schichten und schwierigen Lebenslagen entdeckt und gefördert werden sollen. Kinder, die in Armut aufwachsen, können manche Dinge richtig gut, es wird nur nicht honoriert. Auch sie verfügen häufig über Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt dringend gebraucht werden, zum Beispiel praktische, anwendungsbezogene Kompetenzen, die unser Bildungssystem jedoch zu wenig erkennt und würdigt. Gerade das gymnasiale System ist ja vor allem theoretisch, akademisch geprägt. Und das, obwohl wir die praktischen Begabungen und Talente so dringend brauchen für das Funktionieren und vor allem für die Lösung der Zukunftsfragen der Gesellschaft.

Brauchen wir eine neue Anerkennungskultur in den Schulen?

Unbedingt! Und deswegen fände ich zum Beispiel die Förderung des Handwerkens in der Schule so wichtig. Daraus könnte sich dann auch eine größere Anerkennung ergeben für diejenigen, die hier bessere Leistungen zeigen. Warum gibt es nicht an jeder Grundschule eine Gärtnerei, in der Botanik und Gartenbau, Nachhaltigkeit und Umweltschutz praktisch erlernt werden können? 

Sie haben in diesem Zusammenhang eine »ungleichheitssensible Förderung« gefordert. Was verstehen Sie?

Kurzgefasst: Man muss Kinder dort abholen, wo sie stehen. Das klingt einfach, setzt aber die erfolgreiche Beschäftigung mit fünf hoch komplexen Fragen voraus. Zunächst einmal muss man wissen, wo die Kinder stehen. Wie sind die Rahmenbedingungen, zu Hause und im sozialen Umfeld? Zweitens muss man wissen, wo man selbst steht. Lehrkräfte glauben oft, das würde keine Rolle spielen, aber es ist extrem wichtig. Dann geht es um das, was dazwischensteht, Barrieren zwischen Kindern und Lehrkräften, das können zum Beispiel Eltern sein oder Milieus. Ganz entscheidend ist zum Beispiel der Einfluss von Elternentscheidungen und später auch von Jugendlichen selbst an den entscheidenden Weichenstellungen der Bildungskarriere. Hier braucht es dringend intensive und professionelle Beratung. Und schließlich: wohin wollen wir eigentlich und wie kommen wir dorthin? Fast keine dieser Fragen wird in der Lehrkräfteausbildung systematisch gestellt, geschweige denn hinreichend beantwortet, sie sollten zumindest in der Fortbildung bearbeitet werden. 

Herr Prof. El-Mafaalani, angenommen, Sie wären Bildungsminister. Welche ersten Schritte würden Sie gehen, um schulische Bildungsbenachteiligung und Begabungsförderung zu stärken?

Wenn ich Bundesbildungsminister wäre, würde ich zügig einen Bildungsgipfel einberufen, am besten unter Leitung der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers. Bund, Länder und auch die Kommunen, deren Rolle für gute Bildung gelegentlich unterschätzt wird, sollten gemeinsam realistisch ausloten, was ansteht und was bis wann, mit welchen Ressourcen und von wem umgesetzt werden kann. Dabei geht es nicht um Rosinenpickerei. Auf der Tagesordnung stünde neben dem Ganztag, der Digitalisierung und dem Zustand der Schulgebäude vor allem die Frage, wie das deutsche Bildungssystem seine drei Kernaufgaben – Verkleinerung der Risikogruppe durch Defizitausgleich, Begabungsförderung und Exzellenzförderung – deutlich besser als bisher erfüllen kann. Für eine solche gemeinsame Agenda gäbe es eine historisch günstige Konstellation. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung steht heute hinter der Ganztagsschule, alle Bildungsakteure haben ein Interesse an dem, was für die Förderung armer Kinder von Vorteil wäre – weil alle Kinder davon profitieren würden … Ein neuer Zehnjahresplan für die Bildung hätte ein gewaltiges Potenzial.

Prof. Aladin El-Mafaalani

Herausgeber der SchulVerwaltung spezial

Burkhard Jungkamp

Michael Voges

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Michael Voges

 

Prof. Aladin El-Mafaalani

Professor für Eriehungswissenschaft an der Universität Osnabrück

Prof. Aladin El-Mafaalani

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