BVerfG und EuGH zum Kindergeld für Ausländer
Recht & Verwaltung12 August, 2022

BVerfG und EuGH zum Kindergeld für Ausländer

Prof. Dr. Peter Becker

Zwei höchstrichterliche Entscheidungen der letzten Monate betrafen die Frage, ob ein Ausschluss bestimmter Gruppen von Ausländern vom Kindergeldbezug rechtmäßig ist. Das BVerfG und der EuGH kommen dabei zu ähnlichen Ergebnissen.

1. BVerfG, Entscheidung vom 28.06.2022, 2 BvL 9/14, 2 BvL 10/14, 2 BvL 13/14, 2 BvL 14/14 [/H2]

Staatsangehörige der meisten Nicht-EU-Staaten, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, hatten nur unter eingeschränkten Voraussetzungen Anspruch auf Kindergeld (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG a.F.). Anspruch auf Kindergeld bestand nur, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhielten und zusätzlich bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllten, wie insbesondere berechtigt erwerbstätig waren oder Arbeitslosengeld nach dem SGB II bezogen.

Diese Regelung hat das BVerfG mit jetzt bekannt gewordenem Beschluss vom 28.06.2022, 2 BvL 9/14, 2 BvL 10/14, 2 BvL 13/14, 2 BvL 14/14 wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt.

Da der maßgebliche § 62 Abs. 2 EStG schon mit Wirkung zum 01.03.2020 geändert wurde, hat die Entscheidung auf heute laufende Kindergeld-Bewilligungen keine Auswirkungen.


2. EuGH, Entscheidung vom 01.08.2022, C-411/20[/H2]

Der Fall des EuGH betrifft die heutige Rechtslage: Nach § 62 Abs. 1a EStG haben Staatsangehörige eines anderen EU-Staates für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Kindergeld, es sei denn sie weisen bestimmte inländische Einkünfte nach.

Der EuGH weist in seinem Urteil vom 01.08.2022, C-411/20 auf Folgendes hin:

Jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall ist ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig.
Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer.

Der Aufnahmemitgliedstaat kann zwar gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern. Das in Rede stehende Kindergeld stellt aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und dient nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten.

Da hinsichtlich solcher Familienleistungen, wie dem Kindergeld, eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist, steht das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen.

Auf die Gleichbehandlung kann sich der betreffende Unionsbürger allerdings nur berufen, wenn er während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genügt insoweit nicht. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmemitgliedstaat impliziert, dass die betreffende Person den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dort tatsächlich den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten, und nachweist, dass ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.
Demgemäß können Unionsbürger entgegen dem heutigen § 62 Abs. 1a EStG auch in den drei ersten Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie ihren tatsächlichen und dauerhaft den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Deutschland nehmen und damit ihren gewöhnlichen Aufenthalt dorthin verlegen.

Für die Grundsicherung für Arbeitssuchende und die Sozialhilfe ist dies von Bedeutung, weil Kindergeld gemäß § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II bzw. § 82 Abs. 1 Satz 4 SGB XII als Einkommen zu berücksichtigen und ggf. ein Erstattungsanspruch anzumelden ist.
Prof. Dr. Peter Becker

Prof. Dr. Peter Becker

Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht, Honorarprofessor der Universität Kassel und Chief-Editor der eGovPraxis Sozialhilfe.
Bildnachweis: Stockfotos-MG/adobestock.com
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