von Marco Bijok
Vorerkrankte Angehörige – Besteht ein Anspruch auf Befreiung vom Präsenzunterricht?
Das sagt das Recht
Die Antragsteller in den bisher geführten Eilverfahren berufen sich stets darauf, der Staat verletze mit dem Beharren auf der Teilnahme am Präsenzunterricht seine aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit darstellt. Die Gerichte sehen dies bislang anders. Exemplarisch das Verwaltungsgericht Düsseldorf ( Beschl. v. 01.12.2020, 18 L 2278/20 ):
„Insoweit umfasst das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zwar (...) auch die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben des einzelnen zu stellen und es vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen. Jedoch kommt dem Gesetzgeber auch dann, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen, ein weiter Einschätzungs-, Bewertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Erforderlichkeit konkreter Maßnahmen hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter.(...) Bei seiner Entscheidung hat der Gesetzgeber auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung zu tragen. Von einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht kann demnach nur dann ausgegangen werden, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.
Dabei ist hinsichtlich des Schutzziels zu beachten, dass die Verfassung keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr bietet. Insbesondere gehört im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ein gewisses Infektionsrisiko derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko.
Dies zugrunde gelegt hat der Gesetzgeber im Schulbereich ein hinreichendes Schutzinstrumentarium zur Verfügung gestellt und ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin ohne Bewilligung von Distanzunterricht in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt ist.“
Im Folgenden zählt das Gericht die einzelnen, bereits bestehenden Schutzinstrumente (Maskenpflicht auf dem Schulgrundstück, Dokumentationspflichten zur Rückverfolgbarkeit von Infektionsketten, Vorgaben für die Reinigung der Räume und die Ausstattung mit Desinfektionsmittelspendern) auf und kommt zum Ergebnis, dass diese – was maßgeblich ist – jedenfalls „weder ungeeignet noch völlig unzulänglich“ sind. Schließlich verweist es zum Schutz vorerkrankter Angehöriger auf Maßnahmen, die im häuslichen Bereich getroffen werden können:
„Soweit die Antragstellerin das Erfordernis von Distanzunterricht mit den Vorerkrankungen ihres Vaters und der derzeitigen familiären Wohnsituation begründet hat, hat der Antragsgegner in rechtlich unbedenklicher Art und Weise auf vorrangige Vorsorgemaßnahmen im privaten bzw. häuslichen Bereich verwiesen. Solche Maßnahmen lassen sich offenbar trotz der derzeitigen Renovierungsmaßnahmen in der Wohnung der Antragstellerin realisieren. Insoweit hat die Antragstellerin selbst vorgetragen, der Familie stünden zwei Schlafräume zur Verfügung, wobei die Eltern mit dem jüngsten Geschwisterkind der Antragstellerin in einem Raum schliefen und die Antragstellerin mit weiteren Geschwistern in einem anderen Raum. Diese Separierung zwischen der Antragstellerin und ihrem Vater im häuslichen Bereich ist bereits geeignet, das während des Schulbesuchs durch das durchgängige Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung bereits verringerte Infektionsrisiko weiter zu reduzieren.“
Ob Sie das überzeugt, dürfen Sie nun selbst entscheiden.
Hinzu kommt bereits im Eilverfahren das Problem, dass die zugrunde liegenden Tatsachenbehauptungen betreffend die Vorerkrankungen von Angehörigen durch die Antragsteller „glaubhaft“ zu machen sind. Zwar ist hier kein sog. „Vollbeweis“ zu erbringen. Die Anforderungen sind gleichwohl hoch:
„Soweit die Glaubhaftmachung entsprechender Erkrankungen betroffen ist, sind die Grundsätze heranzuziehen, die für Anträge zur Befreiung von der Maskenpflicht gelten. (...) Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten muss sich regelmäßig nachvollziehbar ergeben, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund des Schulbesuchs (...) alsbald zu erwarten sind und woraus diese im Einzelnen resultieren. Dabei sind Vorerkrankungen konkret zu bezeichnen. Ferner muss im Regelfallerkennbar werden, auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt ist. (...) Gemessen daran lässt sich aus den vorgelegten Attesten keine betreffend den Vater der Antragstellerin gesundheitlich derart zugespitzte Situation feststellen, dass eine Teilnahme der Antragstellerin am Präsenzunterricht trotz der genannten bestehenden Möglichkeiten zur Reduzierung der Infektionsgefahrschlichtweg unzumutbar erscheint.“
Was für Sie wichtig ist
Nach der Entscheidung des VG Düsseldorf kommt eine Befreiung vom Präsenzunterricht demnach allenfalls in Betracht, wenn sich die gesundheitliche Situation vorerkrankter Angehöriger „zugespitzt“ hat. Das VG Aachen ( Beschl. v. 25.11.2020, 9 L 855/20 ) spricht insoweit von einem „vorübergehenden Zustand erhöhter Vulnerabilität“. Das bloße Bestehen einer Vorerkrankung genügt nicht.