Produktentwicklung mit maschinellem Lernen
Recht & Verwaltung16 Februar, 2023

Wie KI den Rechercheaufwand von Jurist:innen reduziert: Interview mit Carsten Böhmert über ein Projekt mit Fraunhofer IAIS

Ein signifikanter Teil des Arbeitsalltags von Jurist:innen besteht darin, die für die Bearbeitung ihrer Fälle relevanten Informationen zu sammeln. Häufig wird dabei nach ähnlichen, bereits vor Gericht verhandelten Fällen gesucht. Dieser Prozess ist zumeist anstrengend und nimmt Zeit und Energie in Anspruch. Durch den Einsatz von Techniken des maschinellen Lernens und des Natural Language Processing kann der Aufwand dafür jedoch reduziert werden, da sie schnellere und effizientere Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung bieten. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (Fraunhofer IAIS) hat sich Wolters Kluwer diesem Problem in einem Pilotprojekt angenommen. In einem Interview gibt uns Carsten Böhmert, Senior Content & Publishing Analyst bei Wolters Kluwer, Einblicke in die Zusammenarbeit.


Was war die Grundlage des Projekts?

Ausgangspunkt war, dass wir die sehr guten Erfahrungen mit dem Einsatz unseres digitalen Tools „Schmerzensgeldassistent” auch auf andere Rechtsgebiete ausweiten wollten. Dieser Assistent ist seit einigen Jahren im Modul „Anwaltspraxis Premium” auf unserer Rechercheplattform Wolters Kluwer Online enthalten. Der Schmerzensgeldassistent bietet durch seine visuell geführte Suche eine ungewöhnliche User Experience, denn er zeigt Nutzer:innen mit nur einem Klick auf das entsprechende Körperteil relevante Gerichtsentscheidungen zu Schmerzensgeld basierend auf tausenden Urteilszusammenfassungen.
Im nächsten Schritt wollten wir herauszufinden, wie mittels maschinellen Lernens eine Datengrundlage geschaffen werden kann, um analog zum Schmerzensgeldassistenten weitere Produkte mit neuartiger Suchfunktion zu entwickeln.

Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit Fraunhofer IAIS ein dreimonatiges Pilotprojekt zur Klassifikation und Extraktion von Informationen aus Urteilen gestartet – zunächst mit Fokus auf Mietrecht.

Wie wurde das Projekt umgesetzt?

Wir haben aus unserem Bestand einen Datensatz an mietrechtlichen Urteilen zusammengestellt und diese annotiert, also anhand bestimmter Merkmale mit entsprechenden Anmerkungen versehen. Das Erstellen der Trainingsdaten hat einen Großteil der Projektzeit beansprucht. Das Annotations-Schema haben wir gemeinsam mit unseren Expert:innen entwickelt – unter anderem entstand so eine Matrix zur Klassifizierung von Mietmängeln.

Zuerst haben wir mit einfacher Extraktion von Entitäten (zum Beispiel Kläger/Beklagte oder Begriffe zum Mietmangel) begonnen. Das haben wir dann im Anschluss auf Klassifikation von Mietmängeln ausgedehnt. Dabei haben wir ein vortrainiertes Sprachmodell verwendet, das wir um unsere speziellen juristischen Daten ergänzt haben.

Im Rahmen der Entwicklung des Datenmodells konnten wir mit verschiedenen Ansätzen experimentieren, deren Wirksamkeit wir immer wieder quantitativ und qualitativ geprüft haben. Dabei ist uns bei einem dieser Experimente aufgefallen, dass wir mit einer Methode, die eigentlich für die Entwicklung von Frage-Antwort-Modellen verwendet wird, gute Ergebnisse beim Identifizieren von Argumentationsstrukturen im Urteilstext erzielen konnten. Davon fasziniert, haben wir diesen Ansatz daraufhin gemeinsam mit Fraunhofer IAIS ausgebaut.

Dieses Verfahren für das Argumentation Mining war übrigens für uns so überzeugend, dass wir es als Grundlage für unsere Innovationsidee „Legal Case Insights“ für den Global Innovation Award 2022, ein weltweiter Innovationswettbewerb von Wolters Kluwer, verwendet haben.

Was war die Erkenntnis?

Durch geschickten Einsatz von Machine Learning in unseren Produkten kann der Rechercheaufwand für Jurist:innen bei der Fallbearbeitung reduziert werden. Hier profitieren wir auch vom Einsatz vortrainierter Sprachmodelle, die in der Lage sind, semantische Ähnlichkeiten zu erkennen. Auch kleinere Modelle als das derzeit vieldiskutierte ChatGPT können hier beachtliche Ergebnisse bringen. Durch den Einsatz unseres Frage-Antwort-Modells können wir schnell und gezielt Informationen in Urteilen sichtbar machen, die sonst mühsam durch lineares Lesen erschlossen werden müssen.

Das gemeinsame Pilotprojekt mit Fraunhofer IAIS, was sich aktuell nur auf ausgewählte Urteilstypen im Bereich Mietrecht beschränkt, bildet hiermit den ersten Schritt in Richtung der automatisieren Urteilszusammenfassung und -aufbereitung. Das langfristige Ziel ist es, mit den gewonnenen Erkenntnissen eine Lösung zu entwickeln, die rechtsbereichsübergreifend einsetzbar ist.

Detaillierte wissenschaftliche Einblicke gibt Birgit Kirsch, Data Scientist bei Fraunhofer IAIS, in diesem Fachbeitrag im Blog des Lamarr-Instituts für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz vom Fraunhofer IAIS.
Carsten Böhmert ist Senior Content & Publishing Analyst bei Wolters Kluwer in Deutschland.
Bildnachweis: Adobe Stock/flashmovie

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