entgelt krankheit
Recht & Verwaltung22 Mai, 2023

BAG: Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Redaktion Wolters Kluwer Online
Die Abstufung der Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 1 und S. 2 EFZG, wonach der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen hat, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zum Nachweis einer Fortsetzungserkrankung in Sinne von § 3 Abs. 1 S. 2 EFZG steht auch im Einklang mit Unionsrecht. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass der erforderliche Vortrag des Arbeitnehmers im Regelfall eine Offenlegung der einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen im maßgeblichen Zeitraum notwendig macht.

Sachverhalt: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Seit Ende Januar 2012 arbeitete der Kläger bei der Beklagten in der Gepäckabfertigung.
Die Beklagte ist ein Unternehmen, das Bodendienstleistungen am Flughafen in F erbringt.

Der Stundenlohn des Klägers betrug 12,56 Euro. Der Kläger war im Jahr 2019 in der Zeit ab dem 24.08.2019 an 68 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt und im Jahr 2020 bis zum 18.08.2020 an weiteren 42 Kalendertagen. Die Beklagte leistete bis zum 13.08.2020 Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG.

Mit seiner Klage hat der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für zehn Arbeitstage (71,2 Stunden) aus dem Zeitraum vom 18.08.2020 bis zum 23.09.2020 geltend gemacht.
Er hat hierbei mehrere Erstbescheinigungen vorgelegt und vorgetragen, welche ICD-10-Codes mit welchen korrespondierenden Diagnosen oder Symptomen in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgeführt gewesen seien. Bezüglich etwaiger Vorerkrankungen hat er Angaben zu Arbeitsunfähigkeitszeiten gemacht, die nach seiner Einschätzung auf denselben ICD-10-Codes bzw. Diagnosen oder Symptomen beruhten.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des ArbG abgeändert und die Klage abgewiesen.

Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Begründung: Eingriff in Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist verhältnismäßig

Mit dem vorliegenden Urteil vom 18.01.2023 - 5 AZR 93/22 - hat sich das BAG mit der Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung im Sinne von § 3 S. 1 und S. 2 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) befasst.

Das BAG hat entschieden, dass dem klagenden Arbeitnehmer für die geltend gemachten 71,2 Stunden aus dem Zeitraum vom 18.08.2020 bis zum 23.09.2020 kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Abs. 1 EFZG zusteht.

§ 3 Abs. 1 S. 1 EFZG sieht nach Worten des BAG einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung vor, wenn ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge einer Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Dieser Anspruch ist grundsätzlich auf die Dauer von sechs Wochen wegen einer Erkrankung begrenzt.

Wenn ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig wird, verliert er nach § 3 Abs. 1 S. 2 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit den Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nur dann nicht,

  • wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (Nr. 1) oder
  • seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist (Nr. 2).

Ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht vor Ablauf dieser Fristen für die Dauer von sechs Wochen daher nur dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einer anderen Krankheit beruht.

Es gilt eine abgestufte Darlegungslast, wenn der Arbeitnehmer innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG länger als sechs Wochen an der Erbringung der Arbeitsleistung verhindert ist.

Zuerst muss der Arbeitnehmer - soweit sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dazu keine Angaben entnehmen lassen - darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierzu kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Wenn der Arbeitgeber bestreitet, dass eine neue Erkrankung vorliegt, muss der Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Der Arbeitnehmer muss daher laienhaft bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden.

Nach Auffassung des BAG bestehen gegen diese Zuweisung der abgestuften Darlegungslast an den Arbeitnehmer nach diesen Grundsätzen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Soweit die abgestufte Darlegungs- und Beweislast bei Fortsetzungserkrankungen vom Arbeitnehmer die Offenlegung von Gesundheitsdaten verlangt, ist der damit verbundene Eingriff in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung verhältnismäßig und damit gerechtfertigt.

Im konkreten Fall muss daher das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung hinter den Verfahrensgrundrechten und den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit), Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) des Arbeitgebers zurücktreten.

Diese Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zum Nachweis einer Fortsetzungserkrankung im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 2 EFZG steht nach Überzeugung des BAG auch im Einklang mit Unionsrecht.

Das LAG hat daher hier zu Recht entschieden, die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers im maßgeblichen Zeitraum hätten keine weiteren Entgeltfortzahlungsansprüche begründet.

Der Kläger hat hierzu nicht substantiiert vorgetragen, so das BAG. Daher ist vom Vorliegen von Fortsetzungserkrankungen auszugehen, sodass dem Kläger wegen des Überschreitens des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG mehr zustand.

Aus Sicht des BAG ist der Kläger nämlich seiner abgestuften Darlegungslast nicht nachgekommen. Nachdem die beklagte Arbeitgeberin, die in dem Jahr vor dem streitgegenständlichen Zeitraum für (deutlich) mehr als sechs Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geleistet hatte, das Vorliegen jeweils "neuer" Erkrankungen im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit S. 2 EFZG bestritten hat, hätte der Kläger zum Nichtvorliegen von Fortsetzungserkrankungen umfassend vortragen müssen. Hierfür genügt ein bloßer Verweis auf Diagnoseschlüssel nach der ICD-10 Klassifikation nicht. Eine Fortsetzungserkrankung liegt nicht nur bei einem identischen Krankheitsbild vor, sondern auch, wenn die Krankheitssymptome auf demselben Grundleiden beruhen. Das Vorliegen "derselben Krankheit" im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 2 EFZG ist nach Ansicht des BAG auch bei gegebenenfalls immer wiederkehrenden (chronischen) Erkrankungen (hier: der Atemwege) im maßgeblichen Zeitraum möglich.

Die Revision des Klägers hat daher keinen Erfolg.

Praktische Bedeutung: Abgestufte Darlegungslast des Arbeitnehmers im Rahmen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist verfassungs- und unionsrechtskonform

Das BAG hat in diesem Urteil zu der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zum Nachweis einer Fortsetzungserkrankung in Sinne von § 3 Abs. 1 S. 2 EFZG Stellung genommen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Vorschrift nicht gegen Verfassungs- oder Unionsrecht verstößt.

Nach Auffassung des BAG besteht zwar am Schutz der den Gesundheitszustand betreffenden Informationen grundsätzlich ein hohes Interesse. Auf Seiten des Arbeitgebers ist nach Ansicht des BAG allerdings neben den Verfahrensgrundrechten die in § 3 Abs. 1 EFZG gesetzlich geregelte wirtschaftliche Zumutbarkeitsgrenze einer grundsätzlich auf sechs Wochen beschränkten Pflicht zur Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen. Ohne entsprechenden Vortrag des Arbeitnehmers läuft ein Berufen des Arbeitgebers auf die gesetzlich vorgesehene Zumutbarkeitsregelung nach Worten des BAG regelmäßig ins Leere, weil er ohne Kenntnis der Ursachen der Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage ist, deren Voraussetzungen einzuwenden. Zudem muss nachprüfbar sein, ob die Entgeltfortzahlungspflicht nach den gesetzlichen Regelungen wegen einer Fortsetzungserkrankung ausgeschlossen ist.

Bildnachweis: M. Schuppich/stock.adobe.com
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