Bürgergeld SGB XII
Recht & Verwaltung19 Januar, 2023

Die Auswirkungen der Änderung der Rechtslage zum 01.01.2023 auf bereits laufende Verfahren

Prof. Dr. Peter Becker, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a.D.

Im SGB XII sind durch das Bürgergeld-Gesetz vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) unter anderem die Freibeträge für das geschützte Vermögen, insbesondere die „kleineren“ Barbeträge nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. der entsprechenden Durchführungsverordnung, deutlich angehoben worden. Zum Beispiel: Von 5.000 Euro für jede volljährige Person bis 31.12.2022 auf 10.000 Euro für jede volljährige Person ab 01.01.2023.

Die Änderung der Rechtslage zum 01.01.2023 und die Auswirkungen auf laufende Verfahren

Dies führt zu der Frage, wie in folgenden Fallgestaltungen zu entscheiden ist:

Beispiel | Fallgestaltung 1:

  • Im Jahr 2022 wurde ein Sozialhilfeantrag abgelehnt, da das Vermögen, z.B. 8.000,00 Euro, die damals geltende Vermögensfreigrenze in Höhe von 5.000,00 Euro überstieg.
  • Gegen diesen Bescheid wurde noch im Jahr 2022 Widerspruch eingelegt.
  • Über den Widerspruch soll nun im Jahr 2023 entschieden werden. 
  • Ab dem 01.01.2023 gilt eine Vermögensfreigrenze in Höhe von 10.000 Euro.
 
Die Beantwortung von Fragen zum sogenannten
intertemporalen Recht, also nach der Rechtslage, die anzuwenden ist, wenn sich das Recht entweder im Laufe eines Verfahrens oder - bei länger andauernden Rechtsverhältnissen - im Laufe der Zeit geändert hat, betrifft alle Rechtsgebiete und ist nicht ganz einfach. Die Literatur sowie die oftmals nur Einzelfälle in bestimmten Konstellationen entscheidende Rechtsprechung ist kaum zu überschauen (vgl. grundlegend Kopp, Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, SGb 1993, 593 ff.).


Daher ist es zunächst Aufgabe des Gesetzgebers eine entsprechende Übergangsregelung zu schaffen. Ein solche ist jedoch dem Bürgergeld-Gesetz im Hinblick auf das SGB XII nicht zu entnehmen.

Für die so entstandene Lücke ist für die Entscheidung über einen Widerspruch in Fällen der obigen Art von Folgendem auszugehen: Das Widerspruchsverfahren ist Teil des Verwaltungsverfahrens insgesamt und daher ist hinsichtlich der anzuwendenden Rechtslage in der Regel auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch als letzte Verwaltungsentscheidung abzustellen (vgl. nur m.w.N. BSG vom 23.06.2016 – B 14 AS 4/15 R -  Rn. 11 ff.).

Abweichend davon ist jedoch im Recht der Sozialhilfe nach dem SGB XII (ebenso wie im SGB III und SGB II) das sogenannte Geltungszeitraumprinzip anzuwenden, nach dem zur Entscheidung des jeweiligen Einzelfalls das Recht anzuwenden ist, das zu der Zeit galt, in der die maßgeblichen Rechtsfolgen eingetreten sind bzw. eintreten sollen, wenn es an einer speziellen Regelung mangelt (BSG vom 19.10.2016 – B 14 AS 53/15 R – Rn. 15 m.w.N. zum SGB II und SGB III; zur Anwendung im SGB XII: LSG NRW vom 17.05.2021 - L 9 SO 271/19 - Rn. 26; LSG Baden-Württemberg vom 27.11.2019 – L 7 SO 3873/19 ER B – Rn. 9; LSG Hessen vom 13.03.2019 – L 4 SO 218/17 - Rn. 53).

Zu Fallgestaltung 1:

  • Demgemäß ist im Jahr 2023, wenn über einen Widerspruch über Leistungen im Jahr 2022 zu entscheiden ist, die im Jahr 2022 geltende Rechtslage anzuwenden.
  • Im obigen Beispielsfall ist der Widerspruch also zurückzuweisen.

 
Dahinter steht im Kern die Überlegung, dass auch bei der Entscheidung über einen Widerspruch hinsichtlich der Höhe des Regelsatzes im Jahr 2022 niemand auf die Idee käme, nun (in 2023) die erhöhten Beträge aus 2023 für Regelbedarfe im Jahr 2022 rückwirkend zugrunde zu legen.

Beispiel | Fallgestaltung 2:

  • Wenn jedoch nicht nur über Sozialhilfe für das Jahr 2022, sondern ebenfalls für das Jahr 2023 zu entscheiden ist, dann ist im obigen Beispielsfall der Widerspruch hinsichtlich Leistungen im Jahr 2022 zurückzuweisen.
  • Hinsichtlich der Leistungen im Jahr 2023 ist dem Widerspruch abzuhelfen, weil nun (ab 01.01.2023) das Vermögen (8.000 Euro) unter dem Vermögensfreibetrag (10.000 Euro) liegt.

 
Anmerkung der Redaktion:

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Peter Becker
Autor

Prof. Dr. Peter Becker

Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a.D., Honorarprofessor der Universität Kassel und Chief-Editor der eGovPraxis Sozialhilfe.
Bildnachweis: Moon Safari/stock.adobe.com
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