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Recht & Verwaltung29 April, 2022

„Aus 25 Interviews mit Zeitzeugen entsteht eine Oral History der Strafverteidigung in Deutschland“ – Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Michael Tsambikakis über „Zeugen der Verteidigung“

Im Mai erscheint bei Wolters Kluwer ein ganz besonderes Werk: In „Zeugen der Verteidigung“ werfen 25 Persönlichkeiten wie Anne Wehnert, Otto Schily, Gregor Gysi und Christian Ströbele ihren ganz persönlichen Blick auf die letzten 40 Jahre Strafverteidigung in Deutschland. Wir sprachen dazu mit den beiden Herausgebern, Prof. Dr. Matthias Jahn von der Goethe-Universität in Frankfurt und Prof. Dr. Michael Tsambikakis, Rechtsanwalt in Köln


Wie würden Sie das Buch in wenigen Sätzen umschreiben? 

Prof. Dr. Matthias Jahn: Aus 25 Interviews mit unseren Zeitzeugen entsteht eine Oral History der Strafverteidigung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Zusammen mit den Zahlen und Fakten aus der Einführung bekommt man als Leser so auf zeitgemäße Weise, ohne Belehrung und mit wenigen editorischen Randnotizen der Herausgeber, ein ungefiltertes Bild einer der tragenden Säulen unseres Rechtsstaats.

Prof. Dr. Michael Tsambikakis: „Zeugen der Verteidigung“ beschreibt vor allem intensiv die disruptive Entwicklung der Strafverteidigung in den 1970er- und 1980er-Jahren.

Wie kam die Idee zu dem Buch zustande?

Jahn: Passenderweise auf einem Strafverteidigertag. 2019 sprach mich Michael Tsambikakis an, ob wir nicht ein Buch mit Interviews stilprägender Kolleginnen und Kollegen auflegen wollten. Ich hatte einige Jahre zuvor die wunderbare Suhrkamp-Doku „Verschwende Deine Jugend“ von Jürgen Teipel gelesen. Sie enthält Interviews mit Musikern und Künstlern über die Punk- und Neue Deutsche Welle-Szene ab 1976. Es lag für mich nahe, für die Strafverteidigung etwas Ähnliches zu versuchen. Das Buch sollte die Authentizität und Leichtigkeit der Interviewform mit verlässlicher Recherche und Fakten verknüpfen. Wir wollten sozusagen die Geschichte der Neuen Deutschen Strafverteidigung erzählen. Leider mussten dann aber fast alle Interviews unter den äußeren Vorzeichen der Corona-Pandemie schriftlich geführt werden.

Tsambikakis: Ich habe immer extrem von der Erfahrung anderer profitiert und versucht, möglichst genau zu beobachten, wie Kolleginnen und Kollegen bestimmte Dinge machen, und zu analysieren, warum sie funktionieren oder eben auch nicht. Es lag auf der Hand, dass ein enormer Wissensfundus rund um die Strafverteidigung bei der von uns befragten Verteidigergeneration vorhanden sein muss. Es wäre schade, wenn ihn nie jemand abgerufen hätte.

Nach welchen Kriterien wurden die 25 Persönlichkeiten ausgewählt?

Jahn: Herausragende Verteidigerinnen und Verteidiger gab es in den letzten vierzig Jahren viele. Wir meinen aber, dass die von uns getroffene Auswahl den neuen Strafverteidigertyp, wie er seit Anfang der 1980er-Jahre in der Rechtswissenschaft beschrieben wird, in seinen Facetten präsentiert.

Tsambikakis: Letztlich ist vieles dem Zufall oder unseren persönlichen Interessen geschuldet. Sind es die besten Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger ihrer Zeit? Wir wissen es nicht. Es sind jedenfalls sehr gute. Für andere, deren Anschauung wir gerne kennengelernt hätten, war am Ende schlicht kein Platz mehr in diesem Buch. Die Auswahl ist eindeutig unter keinem Gesichtspunkt repräsentativ, sie will es auch nicht sein. Es sind mehr Männer als Frauen dabei und schon gar keine Verteidiger mit erkennbarem Migrationshintergrund. Uns schien es aber so, als ob auch dies ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse einer nun langsam vergehenden Epoche ist.

Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Strafverteidigung und die Rolle von Verteidigerinnen und Verteidigern in den vergangenen 40 Jahren entwickelt?

Tsambikakis: Die Verteidigerinnen und Verteidiger, denen wir unsere Fragen stellen durften, haben eine Epoche der flächendeckenden Professionalisierung der Strafverteidigung eingeläutet. Dafür stehen: Herausragende Kenntnis des prozessualen und materiellen Rechts, Konfliktbereitschaft gegenüber Staatsanwaltschaft und Gericht, Wissensmanagement durch Vernetzung, organisierte Interessenvertretung und vieles mehr. Es wird alles dafür getan, dass der Mandant oder die Mandantin nicht zu einem bloßen Objekt der Strafrechtspflege verkümmert.

Jahn: Strafverteidigung von Beschuldigten im Strafverfahren war im Nachkriegsdeutschland nur eines von vielen Gebieten, das Rechtsanwälte als Generalisten bevölkerten. Es war häufig eine Verlegenheitswahl, weil es für arriviertere Rechtsgebiete oder eine Justizkarriere nicht reichte. Eine Spezialisierung auf das Strafrecht war atypisch. Dies wandelte sich erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Dazu gehörten die sogenannten „Terroristenverfahren“, die ersten großen Wirtschaftsstrafprozesse und ein an und mit ihnen erwachendes Standesbewusstsein, das seit der Weimarer Zeit mit ihren emblematischen Verteidigerpersönlichkeiten verloren gegangen war. Die dann einsetzende Professionalisierung ist der ausschließlichen Hinwendung zur Strafverteidigung zu verdanken. Einigen der in unserem Buch zu Wort kommenden Persönlichkeiten wurde das von der Justiz erst einmal dadurch gedankt, dass sie sich als Beschuldigte in Strafakten und vor Gerichtsschranken wiederfanden.

Was sind Ihre persönlichen Highlights des Buchs?

Tsambikakis: Beim besten Willen: Alle Interviews bedeuten mir gleich viel. Es gibt keines, aus dem ich nichts gelernt hätte.

Jahn: Für mich sind es die vielen Querverbindungen zwischen den Interviews. Es sind teilweise die gleichen Sachverhalte, die man aus verschiedenen Perspektiven geschildert bekommt, ohne dass die Interviewpartner das hätten steuern können. Die Lektüre bekommt Elemente einer Ermittlung in Strafsachen, sodass man als Leser aus einer passiven Rolle heraustritt und plötzlich selbst in einem zeitgeschichtlichen Geschehen steht. Das ist für mich der besondere Reiz des Oral History-Formats.

Wem würden Sie das Buch empfehlen?

Jahn: Ganz sicher jedem, der Strafverteidiger ist oder es werden will. Es ist aber für jeden interessant, der sich für Gesellschafts-, Kultur- und Zeitgeschichte interessiert. Die ist ohne Strafverteidigung nicht zu denken.

Tsambikakis: Auch für mich gehört es auf den Nachttisch jedes Strafverteidigers. Alle Rechtsanwälte, aber auch Richter und Staatsanwälte sollten es mit Gewinn lesen. Es ist uns aber ein besonderes Anliegen, das Buch vor allem als ein Stück Zeitgeschichte zu begreifen.

„Zeugen der Verteidigung“ erscheint im Mai 2022 bei Wolters Kluwer Deutschland unter der Verlagsmarke Carl Heymanns.

Prof. Dr. Matthias Jahn, geb. 1968 in Frankfurt, nach Tätigkeit als Strafverteidiger (98-02), Staatsanwalt (02-05) und wiss. Mitarbeiter BVerfG bis 2013 Lehrstuhl Uni Erlangen-Nürnberg. Seit 2010 Leiter Forschungsstelle Recht und Praxis der Strafverteidigung, seit 2013 Direktor Institut für das Gesamte Wirtschaftsstrafrecht der Goethe-Universität, seit 2005 im zweiten Hauptamt Richter am OLG in Nürnberg und Frankfurt (1. Strafsenat).
Prof. Dr. Tsambikakis gründete mit über 20 Jahren Erfahrung im Wirtschafts-, Steuer- und Medizinstrafrecht 2015 die Kanzlei Tsambikakis & Partner. Neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ist Prof. Dr. Tsambikakis Honorarprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Passau. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Fachbücher sowie Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Medizinstrafrecht (medstra), Geschäftsführender Beirat der Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen (ZWH) und Beirat der Zeitschrift „Der Strafverteidiger“ (StV).
Bildnachweis: sodawhiskey/stock.adobe.com

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