Mehrstimmrechtsaktien
Recht & Verwaltung07 Februar, 2024

Interview zu der Wiedereinführung von Mehrstimmrechtsaktien (ZuFinG)

Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. (London)
Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht

In dem nachfolgenden Interview befasst sich Professor Dr. Jens-Hinrich Binder mit dem Thema der Mehrstimmrechtsaktien, die mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz wiedereingeführt wurden.

Mehrstimmrechte wurden im Mai 1998 durch das KonTraG abgeschafft, weil diese u.a. dem Grundsatz »Eine Aktie – eine Stimme« widersprachen. Warum werden diese jetzt wieder eingeführt?

Man könnte – etwas ungenau, aber umso anschaulicher – antworten, die Wiedereinführung beruhe auf einer Art »Druck des Rechtsvergleichs«: Nicht nur haben auch viele europäische Rechtsordnungen über die vergangenen Jahrzehnte hinweg unverändert an Mehrstimmrechtsaktien festgehalten (die skandinavischen Kapitalmärkte kann man geradezu als Domäne von Unternehmen mit »Dual Class«-Aktienstrukturen bezeichnen) – vor allem hat das Vereinigte Königreich nach dem Brexit zur Steigerung der Attraktivität des Börsenplatzes London erhebliche Erleichterungen für Mehrstimmrechtsstrukturen eingeführt, die es wohl vor allem waren, die den rechtspolitischen Druck erhöht haben. Tatsächlich gab es in London seit der Einführung bereits zahlreiche Listings von Start-up-Unternehmen, die mit entsprechenden Strukturen versehen waren, was die Nachfrage unter Gründern danach illustriert hat. Eine besondere Rolle spielte auch die Einführung von Mehrstimmrechten in den Niederlanden, in die zahlreiche Gesellschaften aus dem Ausland – auch aus Deutschland! – zugezogen sind, um derartige Strukturen realisieren zu können; ein besonders prominentes Beispiel bietet die Migration der Fiat Chrysler SA (nunmehr Fiat Chrysler N.V.) von Italien in die Niederlande.

Vor diesem Hintergrund zu sehen war dann der Entwurf der EU-Kommission vom Dezember 2022 für eine »Richtline über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt beantragen« – damit war die Harmonisierung von Anforderungen an Mehrstimmrechtsstrukturen für einen Teil der europäischen Gesellschaftsrechte vorgespurt. Dass der Koalitionsvertrag der deutschen »Ampel-Regierung« auf Veranlassung der FDP von 2021 schon selbst die Wiedereinführung vorsah, ist letztlich wohl als Vorgriff auf die damals schon absehbare europäische Rechtsentwicklung zu sehen; allerdings geht die nicht auf die Zulassung in KMU-Wachstumsmärkten beschränkte, sondern allgemein für alle AG geltende Regelung durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz im Anwendungsbereich deutlich darüber hinaus.

Inhaltlich beruht die Wiedereinführung im Kern auf dem Bestreben, dem vor allem unter Unternehmensgründern verbreiteten Wunsch Rechnung zu tragen, auch nach einer Öffnung der Gesellschaft für dritte Investoren über den Kapitalmarkt die Kontrolle über wichtige Entscheidungen – nicht zuletzt die Besetzung des Aufsichtsrats als Kontrollorgan – behalten zu können. Das Projekt fügt sich damit in die auf europäischer Ebene mit der Weiterentwicklung der »Kapitalmarktunion« und auf nationaler Ebene vor allem mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz verfolgte Agenda, die Kapitalmärkte verstärkt auch für kleine und mittlere Unternehmen zu öffnen und attraktiv zu machen.


Welche Vorteile und Nutzen erkennen Sie bei Aktien mit Mehrstimmrechten?

Wenn man sich den geschilderten Hintergrund der Wiedereinführung von Mehrstimmrechten vor Augen führt, dann liegt der Nutzen – oder vielleicht treffender: die Attraktivität – von Mehrstimmrechtsstrukturen eben darin, dass Gesellschaftsgründer ungeachtet einer mit einem künftigen Börsengang verbundenen Erweiterung des Aktionärskreises, auf dessen Zusammensetzung sie dann keinen Einfluss mehr haben, nicht fürchten müssen, die Kontrolle über wichtige Entscheidungen zu verlieren. Der eben genannte Richtlinienentwurf der EU-Kommission vom Dezember 2022 formuliert das ganz anschaulich: »Angst davor, die Kontrolle über die Gesellschaft zu verlieren, ist einer der Hauptgründe für kontrollierende Anteilseigner, nicht an KMU-Wachstumsmärkten aktiv zu werden. Für kontrollierende Anteilseigner bedeutet die Zulassung zum Handel in der Regel eine Verwässerung der Eigentumsverhältnisse, wodurch ihr Einfluss auf wichtige Investitions- und Betriebsentscheidungen im Unternehmen abnimmt. Insbesondere für Start-ups und Gesellschaften mit langfristigen Projekten und erheblichen Vorlaufkosten kann es wichtig sein, die Kontrolle über die Gesellschaft zu behalten, damit Visionen weiterverfolgt werden können, ohne allzu großen Marktschwankungen ausgesetzt zu sein.«

Man könnte den damit zusammengefassten Erwägungen entgegenhalten, dass Mehrstimmrechtsstrukturen ein letztlich illegitimes Bedürfnis befriedigen, von den Vorteilen einer Börsennotierung (in Gestalt der erleichterten Kapitalversorgung) profitieren zu wollen, ohne die damit zwangsläufig verbundene Öffnung der Governance-Strukturen für die Interessen der außenstehenden Investoren (und ihrer Vertreter im Aufsichtsrat) in Kauf zu nehmen. Dieser Einwand greift allerdings zu kurz. Tatsächlich gibt es durchaus gewichtige, auch rechtsökonomisch fundierte Einwände gegen die Zulassung von Mehrstimmrechtsaktien – das ist eine alte Diskussion, und natürlich sind diese Einwände auch für die Bewertung der deutschen Reform zu berücksichtigen. Dazu gehört nicht nur das Risiko einer missbräuchlichen Ausnutzung durch die mit Mehrstimmrechten ausgestatteten Anteilseigner zulasten der außenstehenden Investoren, sondern auch das Risiko, dass die Unternehmenspolitik aufgrund sachfremder Erwägungen »am Markt vorbei« zementiert oder weiterentwickelt wird. Und natürlich ist mehr als zweifelhaft, ob Unternehmen, in denen entsprechende Strukturen bestehen, geeignet sind, Publikumsaktionäre zur Investition anzureizen und damit ein breit gefächertes Investorenfeld zu erschließen.

Ungeachtet dieser Überlegungen ist jedoch anzuerkennen, dass nun einmal eine durchaus breite Nachfrage nach entsprechenden Gestaltungen existiert, wie die Erfahrungen in anderen Märkten zeigen. Was noch wichtiger ist: Der Wunsch, Kontrolle mit Kapitalmarktzugang zu verbinden, ist weder in normativer Hinsicht noch bei wertender Betrachtung der Interessenlage per se unbillig. In normativer Hinsicht ergibt sich das schon daraus, dass bereits das geltende deutsche Recht – insbesondere mit stimmrechtslosen Vorzugsaktien sowie mit der Rechtsform der KGaA – durchaus Möglichkeiten schafft, diesem Wunsch Rechnung zu tragen. Auch im Übrigen ist der Grundsatz »one share – one vote« zwar ein wichtiges (und gut begründbares!), aber keineswegs ein ohne Ausnahme durchgesetztes Dogma. Darauf hat beispielsweise auch die EU-Kommission zur Begründung ihres Richtlinienentwurfs dezidiert hingewiesen. Und auch unabhängig davon ist bei wertender Betrachtung nicht einsichtig, warum – ein effektiver Schutz zumal geschäftsunerfahrener Publikumsanleger vorausgesetzt – die Entscheidung über die Attraktivität der Anlage in entsprechende Strukturen paternalistisch verboten bleiben sollte, anstatt das Urteil darüber dem Markt zu überlassen.

Immer unter der Voraussetzung, dass die mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Gefahren für unerfahrene außenstehende Investoren effektiv ausbalanciert werden, ist daher letztlich nur schwer begründbar, weshalb Unternehmen mit derartigen Strukturen der Marktzugang a limine verweigert werden soll. Anders ausgedrückt: Jedenfalls wenn geschäftlich unerfahrene Anleger, die die Risiken eines überproportionalen Einflusses der Gründer u.U. nicht einschätzen können, hinreichend geschützt sind, kann man das Verbot von Mehrstimmrechtsaktien nach geltendem Recht mit guten Gründen als Fall einer überschießenden Regulierung einordnen. Vor diesem Hintergrund ist es angesichts des internationalen Drucks letztlich müßig, wenn vielfach beklagt wird, die Wiedereinführung von Mehrstimmrechtsaktien missachte negative Erfahrungen aus der Vergangenheit und sei deshalb als Rückschritt zu bewerten.


Gibt es Beispiele aus anderen Ländern, die zeigen, dass die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien erfolgreich war?

Es gibt jedenfalls zahlreiche Rechtsordnungen, die Mehrstimmrechtsaktien teilweise bereits seit Jahrzehnten zulassen. Interessante Aufschlüsse bietet beispielsweise eine umfassende vergleichende Studie der Oxera Consulting, die im Auftrag der EU-Kommission die rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte von Dual Class Shares in einer Vielzahl von Rechtsordnungen untersucht hat. Die Studie bestätigt nicht nur den Trend zur Zulassung in immer mehr Staaten, sondern auch eine hohe wirtschaftliche Bedeutung. So haben danach Gesellschaften mit entsprechenden Strukturen in den USA zwischen 2008 und 2013 einen Zuwachs von 2,8 % auf 16,5 % aller IPOs erfahren; der Schwerpunkt lag auf Branchen wie Technologieunternehmen, Medien und Informationsdienstleistern. Hierzu gehören bekannte Unternehmen wie Alphabet, Meta Platforms, Ford oder die Alibaba Group. In Skandinavien, wo zahlreiche große Familienunternehmen börsennotiert sind, sind Gesellschaften mit Mehrstimmrechten besonders häufig; für Schweden weist der EU-Richtlinienvorschlag beispielsweise einen Anteil von über 40 % aller börsennotierten Unternehmen aus. Und in Großbritannien sind erst in jüngerer Zeit zahlreiche IPOs von Unternehmen mit entsprechenden Strukturen vorgenommen worden.

Neben diesen Beispielen gibt es weitere Rechtsordnungen (z.B. Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und die Niederlande), die in jüngerer Zeit sogenannte Treueaktien (»Loyalty Shares«) eingeführt haben – Aktien mit unterschiedlich ausgestalteten Vorzugsrechten für längerfristig engagierte Aktionäre. Darunter fallen insbesondere auch Modelle mit Mehrstimmrechten als »Belohnung« für langfristiges Halten, aber auch solche mit besonders gestalteten Vermögensrechten. In der ersten Variante gestatten auch diese Modelle den Gründungsgesellschaftern, die Kontrolle für eine bestimmte Frist abzusichern und sich gegen kurzfristig agierende Investoren abzusichern.

Was sämtliche dieser Beispiele zeigen, ist allerdings nicht nur, dass Investorenschutz und Marktliquidität nicht etwa zwingend leiden müssten, wenn es Mehrstimmrechte gibt. Vielmehr zeigen sie auch, dass die Auswirkungen von Mehrstimmrechtsaktien nicht ohne das jeweilige Marktumfeld bewertet werden können – die genannten Märkte unterscheiden sich sehr stark hinsichtlich der Zusammensetzung der jeweiligen börsennotierten Unternehmen, aber auch im Hinblick auf die Marktliquidität und den Stellenwert der kapitalmarktorientierten Unternehmensfinanzierung allgemein. Besonders deutlich wird dies in Schweden, das sich durch eine Vielzahl typischer Familienunternehmen auszeichnet und damit ein Marktumfeld aufweist, in dem seit jeher völlig anders unternehmerisch agiert wird als in Märkten, die von großen Publikumsgesellschaften geprägt werden. Und vor allem zeigen die Beispiele, dass der Teufel im Detail liegt und dass die tatsächliche Stellung sowohl der Inhaber von Mehrstimmrechten als auch der außenstehenden Aktionäre maßgeblich von der rechtlichen Ausgestaltung abhängt. Hier finden sich ganz unterschiedliche Varianten, die von größter Gestaltungsfreiheit bis hin zu recht scharfen Schutzregeln für die nicht mit Mehrstimmrechten ausgestalteten Aktien reichen, wie sie (mit guten Gründen) im Vereinigten Königreich realisiert sind. Daran haben sich sowohl der deutsche Gesetzgeber als auch der europäische Richtlinienentwurf orientiert.


Wie groß ist die Einflussnahme der Mehrstimmrechtsaktien? Gibt es gesetzliche Vorschriften, die diese Einflussnahme einschränken?

Der Einfluss der Inhaber von Mehrstimmrechten lässt sich nicht abstrakt beschreiben. Er hängt zentral von zwei Faktoren ab. Erstens sind die rechtlichen Rahmenbedingungen von großer Bedeutung: Für den Einfluss der Inhaber von Mehrstimmrechten ist nicht nur entscheidend, in welchem Umfang diese zulässigerweise festgelegt und wie lange sie gehalten werden können, sondern auch, ob – insbesondere im Zusammenhang mit bestimmten Beschlussgegenständen – Schranken festgelegt werden, die ihrer Ausnutzung zu Lasten der nicht davon profitierenden, außenstehenden Aktionäre entgegenwirken. Zweitens kommt es natürlich auch darauf an, wie die Inhaber von Mehrstimmrechten die ihnen eingeräumte Position tatsächlich nutzen, d.h.: auf ihr tatsächliches Stimmverhalten und die damit verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen. Das wiederum ist nicht nur über die unterschiedlichen Branchen hinweg uneinheitlich, sondern auch durch unterschiedliche Kulturen geprägt; man denke wiederum an Schweden, in dem entsprechende Unternehmen in einem Maße marktprägend sind, das in Deutschland fast schon unvorstellbar wäre. Die Auswirkungen von Mehrstimmrechtsaktien sind in der Ökonomik teilweise bereits empirisch untersucht worden. Studien zeigen, dass die Zulässigkeit entsprechender Strukturen tatsächlich beim ersten Marktzugang investitionsfördernd sein kann, dass aber die erhofften Vorteile abnehmen, je länger sie im Unternehmen über die Zeit hinweg zementiert werden. Mit den in jüngerer Zeit eingeführten Regelungen gibt es aber naturgemäß noch keine empirisch belastbaren Erfahrungen. Und angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Regelungsmodelle sind valide Urteile derzeit kaum möglich.

Auch vor diesem Hintergrund lässt sich für das neue deutsche Recht eine Prognose zur tatsächlichen Bedeutung von Mehrstimmrechten und zum damit voraussichtlich zu erwartenden Einfluss gegenwärtig letztlich nicht formulieren. Wichtig ist zu sehen, dass der Gesetzgeber des Zukunftsfinanzierungsgesetzes es eben gerade nicht dabei belassen hat, das bisherige, in dieser Form 1998 mit dem KonTraG geregelte Verbot von Mehrstimmrechten einfach abzuschaffen. Vielmehr wurde mit der neuen Regelung in § 135a AktG eine Vollzugsvorschrift geschaffen, die – in Anlehnung an ausländische Vorbilder (u.a. das britische Modell) und im Einklang mit dem EU-Richtlinienvorschlag – sehr differenzierte Schutzmechanismen vorsieht, um Mehrstimmrechte zwar bei Gründung und Marktzutritt zu ermöglichen, die damit verbundenen Konsequenzen aber über die Zeit hinweg einzuschränken und zurückzudrängen.

 

Wie wird die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien die Bewertung von Unternehmen beeinflussen?

Die Frage nach den Auswirkungen auf die Bewertung von Unternehmen lässt sich letztlich auch so formulieren: Wie wird der Markt reagieren? Auch darüber kann derzeit allenfalls spekuliert werden. Wenn man sich die bereits angesprochenen internationalen Erfahrungen vor Augen hält, dann ist jedenfalls nicht eindeutig belegt, dass Unternehmen mit entsprechenden Strukturen mit Blick auf die damit verbundenen Nachteile in der Corporate Governance zwingend abgestraft werden müssten – man könnte sogar (allerdings verkürzt) sagen: im Gegenteil. Naturgemäß wird die Bewertung und wird damit auch die Reaktion von Investoren von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, die nur teilweise mit der Existenz von Mehrstimmrechten zu tun haben – neben der tatsächlichen Ausnutzung der damit eingeräumten Handlungsoptionen durch die entsprechenden Aktionäre gehören dazu insbesondere die Attraktivität des Geschäftsmodells, die Innovationskraft der Unternehmung und mithin das betriebswirtschaftliche Ertragspotential insgesamt. Diese Faktoren dürften das Investitionsinteresse insbesondere institutioneller Investoren entscheidend prägen; ob dann die Existenz von Mehrstimmrechten zu Kursabschlägen führt, bleibt abzuwarten und hängt wiederum stark von deren Handhabung im Einzelfall ab.


Die Erwartung, dass es hier zu verallgemeinerungsfähigen Entwicklungen kommt, hätte ich jedenfalls kurz- bis mittelfristig nicht und würde zunächst abwarten, wie sich der Markt entwickelt. Die Vorstellung allzu schematischer Marktreaktionen halte ich letztlich für unrealistisch und allzu theoretisch. Sie erinnert mich etwas an die Diskussion über das deutsche Dogma von der Bedeutung der aktienrechtlichen Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) für die Standardisierung und damit für die Verkehrsfähigkeit der Aktie: Wir halten traditionell die Satzungsstrenge als Element hoch, das die Vergleichbarkeit von Aktien gewährleistet und damit den Investoren effiziente Auswahlentscheidungen ermöglicht. Außerhalb Deutschlands – und gerade am US-amerikanischen Kapitalmarkt! – spielt das Dogma allerdings keine Rolle, und dort ist die Marktliquidität keineswegs per se geringer als hier, sondern der Markt stellt sich eben auf unterschiedliche Gestaltungen ein.

 

Besteht die Gefahr von potenziellen Missbräuchen oder Interessenkonflikten? Welche Schutzmechanismen sieht das ZuFinG vor, um diese zu adressieren?

Neben den allgemein-theoretischen Problemen von Mehrstimmrechtsaktien – erschwerte Unternehmensübernahmen und damit verbundene Auswirkungen auf die Anreizstruktur der Geschäftsleiter, Schwächung der Kontrollmöglichkeiten für die Eigentümergesamtheit – sind ganz konkrete Auswirkungen denkbar (und werden diskutiert), die mit Nachteilen für die nicht entsprechend ausgestatteten Aktionäre einhergehen können. Naturgemäß werden die mit Mehrstimmrechten versehenen Gründer in ihrem Beschlussverhalten von eigenen Interessen und (keineswegs notwendigerweise objektiv am Unternehmenswohl orientierten) Vorstellungen davon geleitet werden, was dem Interesse »ihrer« Gesellschaft dient. Das schließt die Gefahr von Selbstüberschätzung ebenso ein wie das Risiko, dass Entscheidungen vom Individualinteresse geprägt sind – nicht zuletzt, wenn Mehrstimmrechte vom Gründer auf nachfolgende Generationen übergehen.

Gegen besonders krasse Formen der Einflussnahme im eigenen Interesse hält teilweise schon das bisherige Recht Schutzmechanismen bereit, etwa das Verbot der Einlagenrückgewähr oder das Verbot der Related Party Transactions (§ 111a AktG). Über diese Regelungen hinaus, die letztlich Gefahren adressieren, die bei jeder Form einer hohen Beteiligung vorliegen, regelt das neue Recht in § 135a AktG n.F. spezifische Formen der Missbrauchsbeschränkung bei Mehrstimmrechtsaktien, die sich – wie ausgeführt – an ausländischen Vorbildern und insbesondere am EU-Richtlinienvorschlag orientieren. Zunächst dürfen Mehrstimmrechte nur das Zehnfache des einfachen Stimmrechts gewähren (§ 135a Abs. 1 Satz 2 AktG), und ihre Einführung bedarf der der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre (§ 135a Abs. 1 Satz 3 AktG). Zudem gehören dazu insbesondere Erlöschensregelungen (sog. »sunset clauses«): Bei börsennotierten Gesellschaften sowie solchen, deren Aktien in den Freiverkehr einbezogen sind, erlöschen die Mehrstimmrechte mit der Übertragung der Aktie (»transfer sunset clause«, § 135a Abs. 2 AktG). Eine zeitliche Obergrenze (»time-based sunset clause«) regelt § 135a Abs. 2 Satz 2-6 AktG: Hiernach erlöschen die Mehrstimmrechte zehn Jahre nach Börsennotierung oder Einbeziehung in den Freiverkehr, was allerdings verlängerbar ist; weitere Erlöschenstatbestände können durch Satzung geregelt werden. Wichtig ist weiterhin vor allem § 135a Abs. 4 AktG, wonach auch Mehrstimmrechte bei Beschlüssen über die Bestellung des Abschlussprüfers (§ 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG) und zur Bestellung eines Sonderprüfers (§ 142 Abs. 1 AktG) nur zu einer Stimme berechtigen. Wichtige Instrumente (auch) des Minderheitenschutzes bleiben damit vom erhöhten Einfluss der Inhaber von Mehrstimmrechten unberührt. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass damit eine ausgewogene Balance gefunden wurde. Wie sich diese in der Praxis bewährt, bleibt abzuwarten.
Online-Seminar

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Das Online-Seminar mit Prof. Dr. Jens Binder, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht | Universität Tübingen, findet am 22. Februar 2024 statt.
Bildnachweis: Von FJM/stock.adobe.com
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