Verbraucherinsolvenz-Top-Entscheidungen-1
Recht & Verwaltung06 März, 2023

Die wichtigsten Entscheidungen aus 2022 in Insolvenzverfahren natürlicher Personen – Teil 1

Prof. Dr. Hugo Grote, Köln/Remagen
Nachfolgend finden Sie diejenigen Entscheidungen aus den Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen, die in 2022 bekannt und erörtert wurden, auch wenn sie teilweise ein Datum aus 2021 tragen.

1. Bestimmung des Abführungsbetrages des Selbständigen nach § 295a InsO durch das Insolvenzgericht

Beispiel:

Leitsatz des Verfassers:
Bei einem Antrag auf Festsetzung des abzuführenden Betrages eines Selbständigen nach § 295a InsO hat das Gericht lediglich den Betrag des fiktiven Brutto-Einkommens zu bestimmen, den der Schuldner bei der Annahme einer nichtselbständigen Arbeit erzielen würde.

AG München, Beschl. v. 04.02.2022 – 1509 IK 1052/21 = InsbürO 2022, 365


Anmerkung:

Der Entscheidung ist zuzustimmen, die Ermittlung des Nettobetrages wäre für den Schuldner sicher hilfreich, allerdings unterliegt dieser sehr vielen variablen Parametern, wie Steuerklasse, Alter der Kinder, etc. Dies zu berechnen, bleibt Aufgabe des Schuldners, der mit dem Bruttobetrag der fiktiven Tätigkeit jetzt aber einen verlässlichen Berechnungsansatz hat. Ob er genug oder zu wenig abgeführt hat, klärt sich nach wie vor in einem evtl. angestrebten Versagungsverfahren.


2. Zulässigkeit einer Umwandlung von Gehalt in eine Direktversicherung auch nach einer Pfändung

Beispiel:

Leitsatz des Verfassers:
Auch wenn bereits eine Pfändung des Arbeitseinkommens des Schuldners vorliegt, können die Arbeitsvertragsparteien noch eine Umwandlung von Lohn in Leistungen in eine betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung) vereinbaren, auch wenn sich hierdurch der pfändbare Lohnanteil verringert.

BAG, Urt. v. 14.10.2021 – 8 AZR 96/20 = InsbürO 2022, 126 f.


Anmerkung:

Die Entscheidung des BAG ist für eine Einzelpfändung ergangen. Hiernach ist auch noch nach dem Eingang einer Pfändung eine Gehaltsumwandlung im Rahmen des § 1a Abs. 1 Satz 1 BetrAVG geschützten Betrages möglich. Der Pfändungsgläubiger – so das BAG – könne ja später auf die Erträge der Direktversicherung zugreifen. Diese Wertung steht ein wenig im Widerspruch zur Entscheidung des BAG zur Umwandlung von Gehalt in eine Direktversicherung nach einer Insolvenzeröffnung. Hier hatte das BAG in einer älteren Entscheidung die Zulässigkeit einer Gehaltsumwandlung zulasten der Gläubiger nach der Eröffnung bislang abgelehnt (BAG, Urt. v. 30.07.2008 – 10 AZR 459/07 Rn. 17).


3. Anfechtung der Umwandlung einer Lebensversicherung

Beispiel:

Leitsatz des Verfassers:
Eine Umwandlung einer Lebensversicherung in eine nach § 851c ZPO pfändungsgeschützte Versicherung ist auch dann nicht anfechtbar, wenn sie nach dem Eröffnungsantrag erfolgte.

OLG Karlsruhe, Urt. v. 10.01.2022 – 3 U 30/21 = InsbürO 2022, 247 f.


Anmerkung:

Die Begründung des Gerichts ist überzeugend: Die Entstehungsgeschichte und der Zweck des § 167 VVG sprächen dafür, die Umwandlung der Lebensversicherung in eine pfändungsgeschützte Versicherung grundsätzlich unanfechtbar auszugestalten, gleich wann diese Umwandlung (vertragsrechtlich wirksam) vorgenommen werde. Gehe man von der Anfechtbarkeit aus, sei das Ziel des Gesetzes nicht erreichbar, den Pfändungsschutz von Altersrenten zu erweitern, um so das Existenzminimum vor allem von Selbstständigen ohne gesetzliche Rentenansprüche zu sichern, dadurch die Sozialhilfeträger zu entlasten und die Gleichbehandlung mit den Empfänger:innen öffentlich-rechtlicher Rentenleistungen herzustellen. Das OLG hat die Revision zugelassen.

4. Aufteilung einer Sterbegeldversicherung über dem Freibetrag

Beispiel:

Leitsätze des Verfassers:
Bei einer Sterbegeldversicherung, deren Versicherungssumme den gem. § 850b ZPO vorgesehenen Höchstbetrag übersteigt, ist der Rückkaufswert quotal aufzuteilen. Eine entsprechende Teilkündigung ist rechtlich zulässig und das Versicherungsunternehmen hierzu verpflichtet.

AG Münster, Urt. v. 01.03.2022 – 7 C 1138/21 = InsbürO 2022, 410


Anmerkung:

Das AG Münster hält die Teilkündigung auch für das Versicherungsunternehmen für zumutbar. Der über den Freibetrag überschießende Teilbetrag des Rückkaufswertes ist an den Insolvenzverwalter auszukehren.


5. Vorschüsse des Schuldners zur Verfahrenseröffnung erhöhen nicht die Vergütung

Beispiel:

Leitsatz des Gerichts:Zahlt ein Schuldner im eröffneten Verfahren monatliche Vorschüsse an den Insolvenzverwalter auf die Verfahrenskosten, sind diese Zahlungen bei der Bestimmung der Insolvenzverwaltervergütung nicht zu berücksichtigen.

BGH, Beschl. v. 11.11.2021 – IX ZB 38/20 = InsbürO 2022, 127 ff.

Anmerkung:

Der BGH wendet § 1 Abs. 2 Nr. 5 Fall 1 InsVV entsprechend an und kommt so zu dem sachgerechten Ergebnis, dass eine Sonderzahlung des Schuldners zur Erreichung einer vorzeitigen Restschuldbefreiung nicht wiederum eine Erhöhung der Verwaltervergütung zur Folge hat. Dadurch wird vermieden, dass der eingezahlte Betrag doch nicht zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung ausreicht.


6. Nachholung der Zahlung der Mindestvergütung

Beispiel:

Leitsatz des Verfassers:
Die Zahlung der Mindestvergütung nach § 298 Abs. 2 InsO zur Abwendung der Versagung der Restschuldbefreiung kann bis zur Rechtskraft der Versagungsentscheidung erfolgen.

LG Hannover, Beschl. v. 30.07.2021 – 11 T 12/21 = InsbürO 2022, 246

Anmerkung:

Die Entscheidung des LG Hannover ist ein wenig überraschend, da die herrschende Rechtsprechung bislang § 298 Abs. 2 InsO sehr eng ausgelegt und eine Überschreitung der Zweiwochenfrist abgelehnt hatte. Der Schuldner hat nach dieser Ansicht noch sehr lange im Versagungsverfahren wegen Nichtzahlung der Mindestvergütung die Möglichkeit, die Versagung abzuwenden.

7. Corona-Sonderzahlung gem. § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar

Beispiel:

Leitsatz des Gerichts:
Coronaprämien, die einem Arbeitnehmer in der Gastronomie vom Arbeitgeber freiwillig zusätzlich zum geschuldeten Arbeitslohn gezahlt werden, können aufgrund ihrer Zweckbestimmung auch unter Berücksichtigung der Gläubigerinteressen als unpfändbare Erschwerniszuschläge gem. § 850a Nr. 3 ZPO qualifiziert werden.

LAG Niedersachsen, Urt. v. 25.11.2021 – 6 Sa 216/21 = InsbürO 2022, 168

(Bestätigt durch BAG, Urt. v. 25.08.2022 – 8 AZR 14/22)

Anmerkung:
Das LAG (und ihm folgend das BAG) sieht eine Coronaprämie aufgrund einer verstärkten Belastung am Arbeitsplatz gem. § 850a Nr. 3 ZPO für unpfändbar an. Grund dafür war im entschiedenen Fall die erhöhte Infektionsgefahr, aber auch die psychischen Belastungen, die mit der Gefahr der Ansteckungen (Thekenkraft) einhergingen. [Siehe dazu auch die Anmerkung von Wolfhard Kohte, jurisPR-ArbR 9/2022 Anm. 4.]

8. Tarifvertragliche Coronaprämie pfändbar

Beispiel:

Leitsatz des Verfassers:
Wird einer Vielzahl von Mitarbeitern ohne Differenzierung nach ihrer Tätigkeit eine Corona-Sonderzahlung gezahlt, so ist diese nicht als Erschwerniszulage nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar.

LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23.02.2022 – 23 Sa 1254/21 = InsbürO 2022, 326 f.


Anmerkung:

Das LAG Berlin hatte über die Pfändbarkeit einer allgemeinen tariflichen Zulage anlässlich der Pandemie zu entscheiden. Aufgrund der allgemeinen Zuwendung an alle Arbeitnehmer auch ohne konkrete Erschwernis ihrer Tätigkeit sah da LAG keine Unpfändbarkeit wegen einer Erschwernis oder Gefahr, auch wenn diese im Einzelfall gegeben sein könnte (a.A. LG Lüneburg, Beschl. v. 10.05.2022 – 3 T 8/22).


9. Unpfändbarkeit des Mindestelterngelds

Beispiel:

Amtlicher Leitsatz:
Das Mindestelterngeld nach § 2 Abs. 4 Satz 1 BEEG ist aufgrund seiner besonderen Zweckbindung nicht den eigenen Einkünften des Unterhaltsberechtigten i.S.v. § 850c Abs. 6 ZPO zuzurechnen.

BGH, Beschl. v. 23.02.2022 – VII ZB 41/21 = InsbürO 2022, 324 f.


Anmerkung:

Das Mindestelterngeld (in der Regel 300,00 €) ist eine reine Förderungsleistung, die allen Eltern als Ausgleich für finanzielle Einschränkungen in den ersten Lebensmonaten des Kindes zustehen soll und der Anerkennung der Betreuungsleistung dient. Nach Ansicht des Gerichts wäre es nicht gerechtfertigt, wenn der Vollstreckungsgläubiger mittelbar von den staatlichen Geldleistungen profitieren würde. Das Mindestelterngeld wird bei der Frage des eigenen Einkommens eines Unterhaltsberechtigten nach § 850c Abs. 6 ZPO nicht als Einkommen angerechnet, ein über diesen Betrag hinaus gezahltes Elterngeld dagegen schon. Der BGH hat damit die Entscheidung des LG Landshut v. 07.07.2021 (AZ: 34 T 1673/21) aufgehoben, das eine Pfändbarkeit auch des Mindestelterngeldes angenommen hatte.


Anmerkung: 

Dieser Artikel ist ursprünglich in der InsbürO - Zeitschrift für die Insolvenzpraxis, 2023, Ausgabe 1, Seiten 11 bis 14 erschienen.
Insbüro – Zeitschrift für die Insolvenzpraxis 
Die Zeitschrift InsbürO – Zeitschrift für die Insolvenzpraxis befasst sich praxisorientiert mit Themen aus den Bereichen Unternehmens- und Verbraucherinsolvenz, Organisation, Tabellenführung, Vergütung, Rechnungswesen, Rechnungslegung, Verwertung und Personalwesen.

Überzeugen Sie sich selbst!
Jetzt informieren
Bildnachweis: pressmaster/stock.adobe.com
Back To Top