Causa Wirecard
Recht & Verwaltung31 Januar, 2023

Causa Wirecard: Schadensersatzanspruch als Insolvenzforderung?

Privatdozent Dr. Stefan F. Thönissen, LL.M. (Yale) nimmt gegenwärtig die Entlastungsprofessur für Zivilrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main wahr.
In diesem Beitrag bespricht unser Experte das Urteil des LG München I vom 23.11.2022 – 29 O 7754/21 – zur Wirecard-Affäre.

LG München I: Schadensersatzansprüche von Wirecard-Aktionären keine Insolvenzforderungen 

In seinem Urteil vom 23.11.2022 (Az. 29 O 7754/21) hat das Landgericht München I entschieden, dass Wirecard-Aktionäre mit etwaigen kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen nicht als Insolvenzgläubiger in der Insolvenz des Emittenten teilnehmen können. Damit hat zum ersten Mal ein Gericht in der Wirecard-Insolvenz zu der in der Literatur sehr umstrittenen und bislang noch nicht höchstrichterlich geklärten Frage Stellung bezogen, ob Aktionäre in der Insolvenz als Insolvenzgläubiger Schadensersatz wegen Verletzung kapitalmarktrechtlicher Informationspflichten geltend machen können. Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Folgen für Insolvenzverfahren. Eigentlich sind Aktionäre nachrangig in der Insolvenz und können nur im Rahmen der Überschussverteilung nach § 199 S. 2 InsO berücksichtigt werden. Sagt man nun, dass wertpapierhaftungsrechtliche Ansprüche von Aktionären als (nicht nachrangige) Insolvenzforderungen geltend gemacht werden können, kann dies erhebliche Konsequenzen für die Verteilung der Insolvenzmasse haben. Dem hat nun das LG München I eine Absage erteilt.

Wirecard-Aktionäre in der Insolvenz des Emittenten

Einmal mehr zeigt sich, dass Insolvenzgroßverfahren in Deutschland wesentlich zur Rechtsfortentwicklung beitragen. Die Frage, ob Aktionäre einer in Insolvenz gefallenen Gesellschaft als (nicht nachrangige) Insolvenzgläubiger Schadensersatz geltend machen können, ist in der Wissenschaft bereits seit Längerem umstritten. Im Zuge des Wirecard-Skandals hat die Diskussion einen neuen Schub erhalten, da Aktionäre infolge des etwaigen betrügerischen Verhaltens kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche geltend machen können. Diese Schadensersatzansprüche können sich insbesondere aus §§ 97, 98 WpHG sowie §§ 826, 31 BGB ergeben. Auf Feststellung dieser Ansprüche zur Insolvenztabelle (§ 179 Abs. 1 InsO) hatte nun eine Kapitalverwaltungsgesellschaft geklagt, nachdem Insolvenzverwalter und andere Gläubiger Widerspruch gegen die Feststellung als Insolvenzforderung (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO) erhoben hatten. 

Rechtliche Einordnung von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen in der Insolvenz

Für die rechtliche Einordnung der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche der Aktionäre gibt es letztlich drei Möglichkeiten: 

  • Einordnung als Insolvenzforderung gem. § 38 InsO 
  • Einordnung als nachrangige Insolvenzforderung gem. § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO
  • Ablehnung der Einordnung als Insolvenzforderung und nur Beteiligung an der den Inhabern des Schuldnerunternehmens zukommenden Überschussverteilung gem. § 199 S. 2 InsO (sog. Residualgläubiger bzw. „nach-nachrangige Gläubiger“), die indes nur dann erfolgt, wenn sämtliche Insolvenzgläubiger vollständige Befriedigung erlangt haben.

In der rechtlichen Argumentation geht es dabei vor allem um folgende Frage: schließt die Stellung als Aktionär aus, dass man auch hinsichtlich kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche Insolvenzgläubiger ist? Hintergrund ist, dass Aktionäre als solche grundsätzlich keine Drittgläubiger im Sinne von §§ 38, 39 InsO, sondern Inhaber von Mitgliedschaftsrechten sind; in dieser Stellung nehmen sie nur an der Überschussverteilung nach § 199 S. 2 InsO teil, hingegen nicht wie Insolvenzgläubiger an der Masseverteilung.

Beschränkung auf Beteiligung der Wirecard-Aktionäre im Rahmen der Überschussverteilung nach § 199 S. 2 InsO

Im Kontext des Wirecard-Skandals hat Thole hierzu vertreten, dass die Aktionäre mit ihren kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen nicht als Insolvenzgläubiger zu beteiligen und damit auf die Überschussverteilung gem. § 199 S. 2 InsO zu verweisen sind (Thole, ZIP 2020, 2533). Ausgangspunkt ist, dass aus mitgliedschaftlichen Rechten der Aktionäre (z.B. Beteiligung am Liquidationserlös, Gewinnrechte) keine Insolvenzforderungen wie diejenigen von Drittgläubigern folgen. Aus § 57 AktG, der der Kapitalerhaltung in der Aktiengesellschaft dient und der dem Bestehen von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen von Aktionären nicht entgegensteht (BGH, Urteil vom 09.05.2005 - II ZR 287/02), d.h. aus der gesellschaftsrechtlichen Möglichkeit von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen, resultiere für die insolvenzrechtliche Einordnung nichts Gegenteiliges. Die Frage lasse sich vielmehr nur insolvenzrechtlich beantworten. Das Insolvenzrecht unterscheide nun zwischen Insolvenzforderungen und mitgliedschaftlichen Ansprüchen, wobei es für die Qualifikation darauf ankomme, ob der Aktionär im Hinblick auf seine Forderung der Gesellschaft wie ein außenstehender Drittgläubiger gegenüberstehe. Da dies bei kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegen Fehlinformation nicht der Fall sei – diese folgten gerade aus der Stellung als Aktionär –, können die Aktionäre insoweit auch nicht wie Insolvenzgläubiger behandelt werden.

Einordnung der Wirecard-Aktionäre als Insolvenzgläubiger

Der Auffassung Tholes sind u.a. Brinkmann/Richter (AG 2021, 489) und Becker (NZI 2021, 302) entgegengetreten. Argumentiert wurde hierbei, dass auch Anteilsinhaber Insolvenzgläubiger sein können; die Stellung als Aktionär bedeute nicht, dass keine Insolvenzforderungen bestehen könnten. Aktionäre könnten nicht nur über mitgliedschaftliche Rechte, sondern auch über Ansprüche als „Drittgläubiger“ verfügen. Die kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche würden nicht aus der Stellung als Inhaber eines Mitgliedschaftsrechts folgen und seien damit nicht als mitgliedschaftsrechtliche Rechte zu qualifizieren. Vielmehr handele es sich um Drittgläubigerrechte, da sie nicht aus der Beteiligung bzw. Gesellschafterstellung selbst folgen und auch die Aktieninhaberschaft nicht voraussetzen. Weil § 57 AktG nicht der Entstehung entsprechender Schadensersatzansprüche zugunsten der Aktionäre entgegenstehe, folge hieraus auch das Bestehen entsprechender Forderungen als Drittgläubigerrechte im Sinne von § 38 InsO („Parallelität“ der Grundwertungen von § 57 AktG und § 199 S. 2 InsO). Ferner seien die Insolvenzforderungen nicht nachrangig gem. § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO.

Die Entscheidung des LG München I im Detail

Das LG München I hat sich nunmehr der ersteren Auffassung angeschlossen. Damit können Aktionäre nicht als Insolvenzgläubiger Schadensersatz verlangen; vielmehr können sie mit ihren Schadensersatzansprüchen lediglich an der Überschussverteilung nach § 199 S. 2 InsO teilnehmen (ob die Ansprüche aus §§ 97, 98 WpHG bzw. § 826 BGB tatsächlich bestehen, konnte daher im vorliegenden Forderungsfeststellungsstreit offengelassen werden). Begründet wurde dies im Wesentlichen mit den aus der Diskussion bekannten Argumenten. Ausgangspunkt ist, dass Anteilsinhaber keine Drittgläubiger im Sinne von §§ 38, 39 InsO sind (Rz. 30 ff., 37). Daran soll sich auch dann nichts ändern, wenn die Aktionäre Schadensersatzansprüche geltend machen, die sich aus einer für den Anteilserwerb kausalen Täuschung ergeben (Rz. 41). Unterschieden wird insoweit nämlich zwischen Gläubigerrechten, die zwar als schuldrechtliche Ansprüche rechtlich verselbständigt sind, aber aus dem Gesellschaftsverhältnis stammen und weiterhin gesellschaftsrechtlichen Bindungen unterliegen, und Drittgläubigerrechten. Daraus, dass es vorliegend um Ersatzansprüche geht, folge noch nicht die Qualifikation als Insolvenzforderung gem. § 38 InsO; vielmehr beruhe die Entstehung der entsprechenden Forderungen gerade auf der Aktionärsstellung (Rz. 44 f.).

Dass die Aktionäre im Hinblick auf die kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche keine Drittgläubiger sind, wird im Folgenden vom LG München I zum einen gesellschaftsrechtlich, zum anderen insolvenzrechtlich begründet. Gesellschaftsrechtlich wird insoweit die Frage thematisiert, ob für eine Berücksichtigung als Insolvenzgläubiger die aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsvorschriften sprechen (Rz. 47 ff.). Argumentiert wurde nämlich, dass, wenn die Kapitalerhaltungsvorschriften der §§ 57, 71 AktG nicht der Entstehung der Schadensersatzforderungen entgegenstehen, dann auch hieraus die Qualifikation als Insolvenzforderung folge. Denn vor Insolvenz könnten diese Forderungen unbeschränkt geltend gemacht werden; nichts anderes könne in der Insolvenz gelten. Dagegen hält das LG München I fest, dass aus der Vereinbarkeit mit den Kapitalerhaltungsvorschriften nichts für die insolvenzrechtliche Qualifikation folge:

„Eine Forderung ist nicht schon dann als Insolvenzforderung i.S.d. § 38 InsO einzuordnen, wenn sie nicht den kapitalerhaltenden Schutzvorschriften unterfällt“ (Rz. 47).

Auch wenn die schadensersatzberechtigten Aktionäre gesellschaftsrechtlich wie Drittgläubiger behandelt werden, so trifft das LG München I die Unterscheidung zwischen werbender und insolventer Gesellschaft. Dass Aktionäre trotz ihrer mitgliedschaftlichen Rechtsposition vor der Insolvenz unbeschränkt Schadensersatz beanspruchen können, führt also nicht dazu, dass sie damit auch in der Insolvenz Insolvenzgläubiger wären.

Entscheidend für die Qualifikation in der Insolvenz kommt es daher auf die insolvenzrechtlichen Bestimmungen an. Daraus folgt nun, dass Aktionäre, die sich für ihre mitgliedschaftsrechtliche Rechtsposition entschieden haben, mit damit verbundenen Schadensersatzansprüchen nicht als Insolvenzgläubiger beteiligt werden könnten (Rz. 59 ff.). Aktionäre würden nämlich im Gegensatz zu sonstigen Drittgläubigern aufgrund einer bewussten Investitionsentscheidung mit einer Gewinnbeteiligung am Unternehmen partizipieren und könnten auch Einfluss auf die Geschäfte der werbenden Gesellschaft nehmen:

„Die Klägerin hat sich mit ihrem Aktienkauf dafür entschieden, eine mitgliedschaftliche Beteiligung an der Schuldnerin zu erwerben. Die mit einer solchen Stellung verbundenen Chancen auf eine Gewinnbeteiligung gehen mit einer nicht von § 38 InsO erfassten Berücksichtigung im Insolvenzfalle einher. Auf diese Weise schützt das Insolvenzrecht Drittgläubiger, die als Fremdkapitalgeber keine Gewinnberechtigung haben.“ (Rz. 61)

Hieraus folgt nach Auffassung des Gerichts, dass die Aktionäre auch das wirtschaftliche Risiko, d.h. das Insolvenzrisiko tragen würden. Damit sei es letztlich unvereinbar, wenn ihnen bei Realisierung des Risikos dieselbe Rechtsposition eingeräumt würde wie anderen Gesellschaftsgläubigern, denen das Gesellschaftsvermögen in der Insolvenz als Haftungsmasse zugeordnet ist. Auch europarechtliche Erwägungen (dazu Brinkmann/Richter, AG 2021, 489, 496 ff.) würden nicht zu einem abweichenden Ergebnis führen (Rz. 71 ff.).

Ausblick: Relevanz über Wirecard-Verfahren hinaus

Damit hat das LG München I im Ergebnis das Bestehen von Insolvenzforderungen der Wirecard-Aktionäre abgelehnt. Ob die Schadensersatzforderungen tatsächlich bestehen (Rz. 26), konnte daher vorliegend offenbleiben. Es bleibt zu erwarten, dass dies nicht die letzte Entscheidung in dieser Sache sein wird. Bis zur höchstrichterlichen Klärung, deren Ausgang sich gegenwärtig nicht vorwegnehmen lässt, wird noch Zeit vergehen. Die Klärung der Rechtsfrage wird jedenfalls auch über die Wirecard-Insolvenz hinaus für andere Insolvenzverfahren von erheblicher Bedeutung sein.

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