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Recht & Verwaltung19 Januar, 2022

Die bedeutsamsten Änderungen im Schuldrecht und ihre Auswirkungen auf die juristische Praxis

Ein Interview zum neuen Schuldrecht mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hanns Prütting und Rechtsanwalt Gerd Weinreich, VROLG Oldenburg a.D.*

*Zur besseren Lesbarkeit wurden die Namen im Interview gekürzt.    

Was hat sich im Jahr 2021 im Bereich des Bürgerlichen Rechts an Änderungen ergeben?

Prütting: Der Gesetzgeber war 2021 in vielfältigen Bereichen ungeheuer aktiv. Allein das BGB hat in diesem Jahr 19 Änderungen erfahren, die vom Allgemeinen Teil über das Schuldrecht bis zum Familienrecht und zum Erbrecht reichen.

Worin sehen Sie die bedeutsamsten Veränderungen?

Prütting: Der Schwerpunkt der Veränderungen liegt eindeutig im Allgemeinen Schuldrecht und im Kaufrecht. Hier hat der Gesetzgeber mit der Neuregelung eines Vertrags über digitale Produkte (§§ 327-327u BGB) und der Umsetzung der Warenkauf-Richtlinie Veränderungen vorgenommen, die allgemein als die größten Änderungen seit der Schuldrechtsmodernisierung des Jahres 2001 angesehen werden. Teilweise wird von einer neuen Schuldrechtsreform gesprochen. Das erscheint deshalb als zu weitgehend formuliert, weil die Änderungen trotz aller Bedeutung keine vollkommen neue Systematik beinhalten.
Neben den Änderungen im Bereich des Schuldrechts sind aber auch im Allgemeinen Teil das neue Stiftungsrecht (§§ 80–88 BGB), im Familienrecht die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (§§ 1773-1888 BGB), und mit Wirkung ab 2024 das neue Personengesellschaftsrecht (§§ 705-740c BGB) hervorzuheben.

Was sind die wesentlichen Neuerungen im Kaufrecht?

Prütting: Ein zentraler Aspekt der Neuregelungen im Kaufrecht ist der neue Begriff des Sachmangels (§ 434 BGB). Ein zweiter wesentlicher Bereich ist der Verbrauchsgüterkauf über digitale Produkte (§§ 475a-475e BGB). Ferner wird der Umfang der Beweislastumkehr im Verbrauchsgüterkauf erheblich ausgeweitet (§ 477 BGB). Die absolut wichtigste Neuerung hat der Gesetzgeber mit den vollkommen neu geschaffenen Verbraucherverträgen über digitale Produkte (§§ 327-327s BGB) außerhalb des Kaufrechts angesiedelt. Er hat dabei aber mit § 475a und mit den §§ 475b ff. eine enge Verknüpfung zum Kaufrecht geschaffen.

Wie ist der neue Sachmängelbegriff ausgestaltet?

Prütting: Der § 434 BGB a.F. hatte auf die vereinbarte Beschaffenheit der Sache sowie die vereinbarte Montage durch den Verkäufer abgestellt. Hier setzt die Neuregelung an und stellt die subjektiven und die objektiven Anforderungen sowie die Montageanforderungen gleichgewichtig nebeneinander (§ 434 Abs. 1 BGB n.F.). Der subjektive Fehlerbegriff des bisherigen Rechts bleibt also bestehen und der objektive Fehlerbegriff wird nun gleichgewichtig daneben gestellt. Die Montagemängel und die Falschlieferungen werden weiterhin im Sachmängelbegriff aufrechterhalten. Der objektive Fehlerbegriff wird in § 434 Abs. 3 BGB dahin konkretisiert, dass die gekaufte Sache sich für eine gewöhnliche Verwendung eignet und dass sie eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen dieser Art üblich ist und die der Käufer erwarten kann. Als Beschaffenheit, die im Verkehr üblich ist, definiert § 434 Abs. 3 Satz 2 BGB die übliche Menge, Qualität, Haltbarkeit, Funktionalität, Kompatibilität und Sicherheit. Die Regelung verdeutlicht, dass es keinen Vorrang der subjektiven Beschaffenheitsvereinbarungen mehr gibt. Allerdings macht § 434 Abs. 3 BGB deutlich, dass eine Abweichung von den objektiven Anforderungen vereinbart werden kann.

Wie können von den objektiven Anforderungen abweichende Vereinbarungen rechtssicher gestaltet werden?

Prütting: Die neuen Anforderungen an den Sachmängelbegriff in § 434 Abs. 1 BGB schließen es aus, eine Abweichung von den objektiven Anforderungen konkludent zu vereinbaren. Der objektive Standard der Beschaffenheit einer Sache ist nach der Verkehrsanschauung zu bestimmen. Eine Abweichung von diesem Standard muss ausdrücklich und sehr konkret vereinbart werden.

Wie ist die Abgrenzung des allgemeinen Kaufrechts zu den Verbraucherverträgen über digitale Produkte durchzuführen?

Prütting: Ausgangspunkt ist § 475a BGB, der für einen Verbrauchsgüterkauf, der einen körperlichen Datenträger zum Gegenstand hat (Abs. 1) statt des Kaufrechts auf die §§ 327 – 327s BGB verweist. Gleiches gilt für einen Verbrauchsgüterkauf über Ware, die digitale Produkte enthält oder mit digitalen Produkten verbunden ist, die ohne diese digitalen Produkte ihre Funktion erfüllen, isoliert für die digitalen Produkte (Abs. 2). Darüber hinaus ist bei Sachmängeln einer Ware mit digitalen Elementen gemäß § 475b Abs. 1 BGB die Legaldefinition des § 327a Abs. 3 Satz 1 BGB heranzuziehen und es gelten die Sonderregeln der §§ 475b – 477 BGB. Künftig sind daher die allgemeinen Verbraucherverträge (§ 474 BGB) von den Verbraucherverträgen über digitale Produkte (§ 327 Abs. 1 BGB) sowie von den Verbrauchsgüterkaufverträgen über Waren mit digitalen Elementen (§ 475b Abs. 1 BGB) abzutrennen.

Welche Voraussetzungen haben die Verbraucherverträge über digitale Produkte (§§ 327 ff. BGB)?

Prütting: Es muss sich zunächst um einen Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher handeln (beachte die Legaldefinition in den §§ 13, 14 BGB). Für Verträge zwischen Unternehmern sind lediglich die §§ 327t, 327u BGB zu beachten. Inhalt des Vertrags müssen die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen sein, die das Gesetz als digitale Produkte zusammenfasst. Die Bereitstellung dieser digitalen Produkte muss weiterhin gegen Entgelt erfolgen, wobei das Gesetz auch die digitale Darstellung eines Wertes als Preis behandelt (§ 327 Abs. 1 Satz 2 BGB). Ebenso ist in diesem Rahmen ein Entgelt gegeben, wenn der Verbraucher personenbezogene Daten bereitstellt (§ 327 Abs. 3 sowie § 312 Abs. 1 a BGB). Ausgeschlossen sind Dienstleistungsverträge, die nicht unter § 327 Abs. 2 Satz 2 BGB fallen, ferner Telekommunikationsdienstleistungen, medizinische Behandlungsverträge, Glücksspieldienstleistungen, Finanzdienstleistungen, unentgeltliche Bereitstellung von Software, digitale Inhalte als Darbietung in der Öffentlichkeit sowie Bereitstellung von Informationen im Sinne des Informationsweiterverwendungsgesetzes. Unter die §§ 327 ff. BGB fallen aber auch die sog. Paketverträge, also Verträge über digitale Produkte, die zugleich die Bereitstellung anderer Sachen und anderer Dienstleistungen zum Gegenstand haben (§ 327a Abs. 1 BGB).

Sind Streaming-Dienste, Messenger-Dienste oder soziale Medien vom Anwendungsbereich der §§ 327 ff. BGB erfasst?

Prütting: Der gesetzliche Vertragsinhalt eines digitalen Produkts (also Bereitstellung eines digitalen Inhalts oder digitaler Dienstleistungen) gegen Entgelt ist sehr weit gefasst. Darunter fallen Streaming-Dienste, Messenger-Dienste (z.B. WhatsApp) und soziale Medien (Facebook, Instagram, TikTok), ebenso Buchungs- und Vergleichsplattformen, ferner Vermittlungs- und Verwertungsplattformen. Ebenso fallen darunter alle Arten von Computerprogrammen, von Apps auf Mobilgeräten, Musikdateien, digitale Spiele, elektronische Bücher, Videodateien und Audiodateien. Unter die digitalen Dienstleistungen fallen auch die Nutzung von Datenbanken sowie die bereits erwähnten Social-Media-Dienste, die Nutzung von Streamingdiensten und die Bereitstellung von Cloud-Speicherplätzen.

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Synopse zur Schuldrechtsreform 2022

Eine synoptische Darstellung der Gesetzesänderungen im BGB durch das Gesetz für faire Verbraucherverträge, die Warenkauf-Richtlinie, die Digitale-Inhalte-Richtlinie und die Modernisierungs-Richtlinie.

Bildet ein Vertrag über digitale Produkte (§§ 327 ff. BGB) einen neuen und eigenen Vertragstypus?

Prütting: Die Verortung der §§ 327 ff. BGB im Bereich des Allgemeinen Schuldrechts spricht systematisch gegen die Schaffung eines neuen Vertragstypus. Der Gesetzgeber hat damit die Möglichkeit geschaffen, bei offenen Rechtsfragen einzelne Regelungen aus dem besonderen Schuldrecht analog heranzuziehen (z.B. Normen des Kaufvertrags, des Dienstvertrags oder des Werkvertrags). Andererseits lässt sich nicht verkennen, dass der Gesetzgeber den Regelungsbereich der Verträge über digitale Produkte in einer Weise ausgestaltet hat, die das Bemühen um eine umfassende Regelung erkennen lassen. So sind in den § 327 ff. BGB die Regelungen über den Bereich der Gewährleistungsrechte umfassend eingefügt worden. Das spricht dafür, dass sich in der Wirtschaftspraxis und in der Rechtsprechung die Verträge über digitale Produkte mehr und mehr zu einem eigenen Vertragstypus entwickeln werden. Aus praktischer Sicht erscheint dies sinnvoll, auch wenn das systematische Verständnis darunter leidet.

Führt das neue Recht zu einer Verpflichtung der Unternehmer, Aktualisierungen ihrer digitalen Produkte (Updates) vorzunehmen?

Prütting: Im Rahmen des Gewährleistungsrechts für Verträge über digitale Produkte stellt die Aktualisierungspflicht des Unternehmers gemäß § 327f BGB eine echte Neuregelung dar. Das Gesetz fasst den Begriff der Aktualisierung sehr weit. Darunter fallen alle Maßnahmen zum Erhalt und zur Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten durch den Verbraucher, ferner alle Sicherheitsmaßnahmen. Maßgeblicher Zeitraum für die Pflicht zur Aktualisierung ist gemäß § 327f Abs. 1 Satz 3 BGB bei dauerhafter Bereitstellung der gesamte Vertragszeitraum, im Übrigen der Zeitraum, den der Verbraucher erwarten kann, wobei eine Abwägung nach Art und Zweck des digitalen Produkts sowie der Umstände und der Art des Vertrags zu erfolgen hat. Versäumt der Unternehmer eine Aktualisierung oder informiert er den Benutzer nicht über die Bereitstellung, so liegt ein Produktmangel vor (§ 327e Abs. 3 Nr. 5 BGB).

Weinreich: In § 327f BGB geht der Gesetzgeber weit über das hinaus, was bislang Gegenstand eines Kaufvertrages war, indem er für einen „maßgeblichen Zeitraum“ die Verpflichtung es Unternehmers begründet, stets Aktualisierungen vorzunehmen. Dadurch enthält der Vertrag über digitale Produkte Elemente eines Dauerschuldverhältnisses.
Indem nach Abs. 1 Nr. 2 diese Pflicht dann, wenn nicht eine dauerhafte Bereitstellung geschuldet ist, solange besteht, wie der Verbraucher dies „aufgrund der Art und des Zwecks des digitalen Produktes … unter Berücksichtigung er Umstände und der Art des Vertrages erwarten kann“ sind heftige Streitigkeiten über die Ausfüllung dieses Rechtsbegriffes zu befürchten.

Wie ist die Klarheit der Neuregelung einzuschätzen? Ist eine längerfristige Rechtsunsicherheit zu befürchten?

Prütting: Der Anwendungsbereich der neuen Regeln über die Verträge mit digitalen Produkten sowie über den Warenkauf mit digitalen Elementen ist jeweils sehr weit gefasst. Dies ermöglicht bei allem Streit über Einzelheiten eine gewisse Rechtsklarheit über den Anwendungsbereich von Anfang an. Neben den Fragen des Anwendungsbereichs ist es auch hilfreich, dass das Gewährleistungsrecht der §§ 327c – 327m BGB häufig einen Rückgriff auf die Rechtsprechung und die Kommentarliteratur des allgemeinen Gewährleistungsrechts erlaubt. Ein hoher Konkretisierungsbedarf durch die Rechtsprechung wird sich dagegen in den Bereichen ergeben, in denen die Vertragsabwicklung durch unbestimmte Rechtsbegriffe geregelt ist. Zu denken ist dabei an Formulierungen wie „Zeitraum …, den der Verbraucher aufgrund der Art und des Zwecks des digitalen Produkts und unter Berücksichtigung der Umstände und der Art des Vertrags erwarten kann“ (§ 327f Abs. 1 BGB). Zu denken ist auch an § 434 Abs. 3 BGB, wonach die Sache den objektiven Anforderungen entspricht, wenn sie „eine Beschaffenheit aufweist, …die der Käufer erwarten kann“. Solche und andere unbestimmte Rechtsbegriffe werden sicherlich nach jahrelangem Streit vom BGH konkretisiert werden. Das bedeutet aber zugleich, dass es über vielfältige Abwicklungsfragen Rechtsunsicherheit über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren geben wird.

Weinreich:
Die Neuregelung enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe an zentraler Stelle. So ist beispielsweise in §327 Abs. 3 Nr. 2 BGB davon die Rede, dass das digitale Produkt den objektiven Anforderungen genügt, wenn es eine Beschaffenheit aufweist, „die bei digitalen Produkten derselben Art üblich ist und die der Verbraucher unter Berücksichtigung der Art des digitalen Produkts warten kann.“ Auch nach Nr. 4 wird erwartet, dass Zubehör und Anleitungen bereitgestellt werden müssen, die der Verbraucher erwarten kann. Die Erwartung des Verbrauchers hat wird auch in anderen Normen betont, so dass ihr eine zentrale Rolle eingeräumt wird. Hinzuweisen ist dafür etwa auch auf die §§ 327f Abs. 1 oder 434 Abs. 3 BGB. Diese und weitere unbestimmte Rechtsbegriffe sind durch die Rechtsprechung und Kommentierung auszufüllen, was sicher zu einer jahrelangen Rechtsunsicherheit führen wird.

Wie sind die Wirkungen der gesetzlichen Neuregelungen auf die Praxis einzuschätzen?

Prütting: Das neue Recht wird zweifellos einen enormen Beratungsbedarf auslösen. Die Anwaltschaft und die Gerichte müssen sich auf das neue Sachmängelrecht, auf neue Abwägungen zu den Erwartungshaltungen der Verbraucher, auf neue Fristen und auf neue Begrifflichkeiten einstellen. Die Unternehmen werden sich auf weitergehende Hinweispflichten und vor allem auf die Pflicht zur Aktualisierung einstellen müssen. Es werden in weiten Bereichen die AGB zu überprüfen und zu ergänzen sein. Auf die Rechtsberatung und die Rechtsprechung, die gerade noch intensiv mit Sammel- und Massenklagen beschäftigt sind, kommen also weitere große Herausforderungen zu.

Weinreich: Abgesehen von den sich aus den unbestimmten Rechtsbegriffen ergebenden Unsicherheiten werden sich nach meiner Einschätzung Probleme in der Rechtsanwendung bei einzelnen Warengruppen ergeben, die stark digitalisiert sind, wie etwa teil- oder gar vollautonome Kraftfahrzeuge, das Internetradio oder viele andere. Eine klarere Abgrenzung wäre meines Erachtens wünschenswert gewesen.
So werden auf die Gerichte, die Anwaltschaft aber auch die Unternehmen in den nächsten Jahren große Probleme zukommen. Ich halte es für sehr unglücklich, dass der Gesetzgeber die Ausfüllung des Gesetzes auf die Rechtsprechung überträgt.

Vielen Dank für das Gespräch.
Interview mit
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Prütting
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hanns Prütting
Universität zu Köln
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Prütting
Gerd Weinreich
Rechtsanwalt | VROLG Oldenburg a.D.
Bildnachweis: Andrey Popov/stock.adobe.com
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