Weg von den verstaubten Mustern – Die Bedeutung der „Ökonomie der Singularitäten“ und der Digitalisierung in der Schule der Zukunft
Recht & Verwaltung12 Oktober, 2022

Weg von den verstaubten Mustern – Die Bedeutung der „Ökonomie der Singularitäten“ und der Digitalisierung in der Schule der Zukunft

Trotz aller Komplexität und der Widersprüchlichkeit von Erkenntnissen der empirischen Bildungsforschung ist es doch möglich, einige pointierte Thesen zu Anspruch, Wirklichkeit und Leistung »der Schule von heute« zu formulieren. Basis dieser Thesen ist eine über vierzigjährige theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Fragen der Schulentwicklung, die in einer Reihe von Publikationen differenziert dargestellt wurden. Dabei zeigt sich in der Rückschau eine erschreckende Erkenntnis, nämlich die, wie wenig sich an den grundlegenden Entwicklungsherausforderungen verändert hat, die, Burow & Scherpp, bereits 1981 in dem Buch »Lernziel; Menschlichkeit. Gestaltpädagogik – eine Chance für Schule und Erziehung« beschrieben haben.

Zentrale Forderungen der Humanistischen Psychologie

In pointierten Gegenüberstellungen brachten Burow & Scherpp zentrale Forderungen aufgrund einer Analyse der Schwachpunkte traditioneller Schulen aus dem Blickwinkel der Humanistischen Psychologie auf den Punkt:

  • statt Selektion – Förderung
  • statt Normierung und Verplanung – selbstgesteuertes Lernen und Kreativität
  • statt Unterricht nach Fach- und Stundenprinzip – Lernen in sinnvollen Ganzheiten
  • statt Überbetonung des Kognitiven – Integration
  • statt Unterdrückung des Bewegungsdrangs – Förderung von physischem Lernen
  • statt emotionsloser Fachwissenschaftler – Lehrer/-innen als ganze Menschen
  • statt Bevormundung – selbstbestimmtes Lernen
  • statt ausgeklügelter Motivationsstrategien – Ausgehen von dem, was im Schüler/-in ist
  • statt Resignation – Befähigung zu aktiver Selbstbestimmung

Zentral für die Gestaltpädagogik war die These, dass Lernen »persönlich bedeutsam sein muss«, will es nachhaltige Effekte erzielen – eine Einsicht die der Hirnforscher Gerhard Roth genau 30 Jahre später in seinem Buch »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt« empirisch belegt hat: Innerhalb von zwei Jahren vergessen wir demnach bis zu
80 % des Schulwissens, das für uns nicht persönlich bedeutsam ist.

Die utopische Schule der Zukunft – leider noch nicht real

Die Schule der Zukunft, die uns damals vorschwebte, ist in den vergangenen 35 Jahren nicht oder nur unzureichend geschaffen worden. Nach wie vor ist die Traditionsschule tendenziell nach dem Modell der Fabrik der industriellen Massenproduktion und dem ständischen Systems Preußens organisiert: Schüler/-innen werden im gegliederten System nach fragwürdigen Begabungskategorien getrennt und in Alterskohorten eingeteilt, die fließbandmäßig vorrücken, wobei der »Ausschuss« aussortiert wird – derzeit etwa 150000 Schüler/-innen pro Jahr. Regelmäßig zeigen die empirischen Schulleistungsvergleichsstudien, dass wir mehr denn je vom Ziel der Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit entfernt sind, wobei viele dieser Studien allerdings nicht nur Mängel offenlegen und nebenbei dazu beitragen, den Druck auf Lehrer/-innen und Schule zu erhöhen, sondern auch zumindest teilweise von den eigentlichen Ursachen ablenken. »Ohne Verteilungsgerechtigkeit kann es keine Chancengleichheit geben«, so fasst der Darmstädter Eliteforscher Michael Hartmann das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Studien zusammen – eine Einsicht, die in Zeiten der Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit mehr denn je gilt.

Zusammenfassend kann ich die These vertreten – auch unter Berücksichtigung der letzten PISA-Studien und der Ergebnisse der IGLU Grundschulstudie –, dass die Traditionsschule die an sich gerichteten Erwartungen, nämlich nach umfassender Qualifizierung aller Schüler/-innen und der Gewährleistung von Chancengleichheit nicht oder nur unzureichend erreicht: Zwar erklimmen inzwischen ca. 11 % der Schüler/-innen die PISA-Spitze, doch verharren bis zu 20 % auf untersten Niveau. Die Traditionsschule in ihrer jetzigen Ausrichtung verschärft die soziale Spaltung und wird mit ihrer überholten Organisationsstruktur überdies den Anforderungen einer zukunftsorientierten Schule in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nur unzureichend gerecht.

Die raren Ausnahmefälle – leider noch viel zu wenige

Zwar gibt es eine Reihe innovativer Schulen, wie z.B. die »Alemannen-Schule« in Wutöschingen oder die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete »Freiherr-vom-Stein-Schule« (Neumünster), die dabei sind, die Schule der Zukunft zu erfinden, aber dies sind eher rare Ausnahmen. Während die Gesellschaft durch einen rasanten Wandel fast aller Lebensbereiche charakterisiert ist, halten Bildungspolitiker, leider auch die meisten Eltern und auch zu viele empirische Bildungsforscher, an einem Modell fest, das in seinem Kern und seiner Struktur überholt ist und das nicht optimiert werden kann, sondern überwunden werden muss. So hat der englische Pädagoge Kern Robinson in einem millionenfach abgerufenen YouTube-Video (Robinson, 2010) herausgearbeitet, dass die Traditionsschule für eine andere Gesellschaft, nämlich die des Zeitalters der Aufklärung und der industriellen Massenproduktion konzipiert wurde.

Die Grundidee, für alle zur gleichen Zeit das Gleiche nach Fächern sortiert im Fließbandtakt zu unterrichten und an einheitlichen Maßstäben mit einseitig akademisch-kognitiver Ausrichtung abzuprüfen, erweist sich zumindest in Teilen als überholt, da der gesellschaftliche und technisch-kulturelle Wandel völlig veränderte Anforderungen stellt und überdies längst pädagogische Konzepte zur Verfügung stehen, die im Sinne von Comenius berühmten Ausspruch dafür sorgen, dass »…die Lehrer weniger lehren, die Schüler/-innen dennoch mehr lernen, in den Schulen weniger Lärm, Überdruss, unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt«. Die Chancen dafür stehen eigentlich gut, denn zurzeit erleben wir einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, der bei richtiger Nutzung viele neue Möglichkeiten eröffnet.

Vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus

So hat der Soziologe Andreas Reckwitz (Reckwitz, 2017) gerade in einer viel beachteten Studie herausgearbeitet, dass wir seit einigen Jahren den Übergang vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus erleben, in dem es vorrangig nicht mehr um Formalisierung und Standardisierung, sondern um »Singularisierung« geht. Für Schulen bedeutet dies Reckwitz zufolge, dass es nicht mehr genügt, das staatlich vorgegebene Lernpensum zu vermitteln, sondern dass es für Schulen immer häufiger darum geht, ein eigenes Profil zu entwickeln. Statt Schüler/-innen an vorgegebene Curricula anzupassen, gilt es immer mehr, besondere Begabungen, Neigungen bzw. Eigenschaften zu fördern, so dass die Lernenden ihr individuelles Potenzial freisetzen und so ihr Alleinstellungsmerkmal ausbilden können.

Die für die Moderne bestimmende Logik des Allgemeinen wird – so Reckwitz – durch eine soziale Logik des Besonderen in der Spätmoderne überlagert. Anders als in der Industriegesellschaft geht es jetzt darum, das Besondere, das Einzigartige, das Nichtaustauschbare und Nichtvergleichbare zu fördern. Die Herrschaft des Allgemeinen, die die traditionelle Schule charakterisiert, mit Standardisierung, Formalisierung, der fließbandmäßigen Abfertigung der Schüler/-innen, die nach Alterskohorten sortiert vorrücken und an allgemeinen Kategorien vermessen werden, wird immer häufiger dysfunktional. Dabei wirken, so Reckwitz, zwei Triebkräfte: An die Stelle der alten industriellen Ökonomik tritt im Kulturkapitalismus die »Ökonomie der Singularitäten« (1), die durch die Digitalisierung (2) massiv vorangetrieben werde. Reckwitz wörtlich:

Vom Allgemeinen zum Individuellen

»Während die Logik des Allgemeinen mit Prozessen gesellschaftlicher Rationalisierung und Versachlichung zusammenhängt, ist die Logik des Singulären mit Prozessen gesellschaftlicher Kulturalisierung und Affektintensivierung verbunden.« Die Vorherrschaft abfragbaren Wissens reduziert sich zugunsten von Kompetenzen zum selbstgesteuerten Lernen und zur Kreativität. Aus diesem Kontext ergibt sich ein Begründungszusammenhang für den Übergang von der alten, instruktionsorientierten Wissensvermittlungsschule zur Kulturschule, d.h. einer Schule, die in allen Bereichen nach ästhetischen Prinzipien organisiert ist und die es Schülern/-innen ermöglicht, umfassende Lebenskompetenz zu entwickeln.

Literatur

Reckwitz, A. (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.

Robinson, K. (2010): Changing Education Paradigms: https://www.google.de/search?q=ken+robinson+rsa&ie=utf-8&oe=utf-8&client=firefox-b&gfe_rd=cr&ei=KMWQWIDaEI7Z8Afu9a6YCw

Bildnachweis: Viacheslav Yakobchuk/stock.adobe.com
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