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Recht & Verwaltung18 März, 2021

Schwächen im deutschen Bildungssystem überwinden - aus der Corona-Krise lernen

Von Janina Gerdes | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit

Die Corona-Krise deckt vorherrschende Probleme im deutschen Bildungssystem auf

Die Corona-Pandemie hat im Bildungssektor einen Schock ausgelöst. Seit vielen Wochen verändert die weltweite Pandemie in einem bislang ungekannten Ausmaß das öffentliche Leben und die privaten Lebensstile und -praxen. Das Bildungssystem und die Bildungsakteur*innen stehen vor großen Herausforderungen. Für viele Menschen bedeutet diese Ausnahmesituation eine große emotionale und wirtschaftliche Belastung, denn bereits bestehende Ungleichheiten haben sich verschärft. Kitas befinden sich auf dem Weg von der Notbetreuung zu einem eingeschränkte Regelbetrieb, Schulen sind für einige Jahrgänge partiell geöffnet, Hochschulen müssen bis auf Weiteres geschlossen bleiben und außerschulische Bildungsangebote können nicht mehr stattfinden. Auf eine derartige Situation war das Bildungssystem nicht vorbereitet. Folglich waren viele Bildungsakteur*innen zunächst auf sich allein gestellt. Es mussten digitale Lösungen für das Lehren und Lernen gefunden werden. Dieser Beitrag thematisiert diese Probleme und zeigt auf, wie wir daraus lernen können.

Covid-19 stellt für Menschen mit Vorerkrankungen eine besondere Gefahr dar. "Auch das deutsche Bildungssystem hat Vorerkrankungen", so Prof. Dr. Ada Pellert, Rektorin der Fernuniversität Hagen während eines digitalen Dialoges am 19.06.2020. Die Corona-Krise radikalisiert vorherrschende Probleme und macht Defizite im Bildungssystem sichtbar (vgl. Arbeitsgruppe DivER 2020, S.1). Hinzu kommt, dass nicht abzusehen ist, wie lange die Pandemie anhält und wann ein Impfstoff für Schutz sorgen kann. Diese Situation zwingt das System dazu, mit neuen Ansätzen langfristig umzugehen.

Ein großes Defizit des deutschen Bildungssystems stellt die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft dar (vgl. Spiegler 2015 S.12). Die sozialen Ungleichheiten im Bildungserwerb sind ein Ergebnis ungleicher Gesellschaftsstrukturen (vgl. Spiegler 2015 S. 345). Bereits benachteiligte Personen sind durch die Pandemie mit Belastungen konfrontiert, die sie nicht kompensieren können. Das Homeoffice ist nur für Personen eine gute Möglichkeit, die nicht aufgrund der Kitaschließungen parallel auch noch die Betreuung ihrer Kinder gewährleisten müssen. Kinder und Jugendliche sind im Homeschooling auf Eltern angewiesen, die den Bildungserwerb begleitend unterstützen und ggf. geeignete interaktiver Lernstoffe kompensieren können. Für diese Form des Lernens sind Wohnverhältnisse und ausreichend Ausstattungs- und Netzkapazitäten notwendig. Hinzu kommt der Verlust sozialer Kontakte, die deutlich spüren lassen, was es heißt, auf die Familie angewiesen zu sein. Zudem kommt der Wegfall wichtiger außerschulischer Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten. Für das Überwinden dieser außergewöhnlichen und herausfordernden Situation werden vielfältige Ansätze benötigt. Ein Ansatzpunkt ist die Verbesserung der Chancengleichheit entlang der gesamten Bildungskette. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist die Verbesserung der digitalen Ausstattung sowie der digitalen Infrastruktur aller Bildungsangebote. Infrastruktur- und Ausstattungskonzepte müssen integraler Bestandteil eines Gesamtkonzeptes zur „Bildung in der digitalen Welt“ sein. So steht es bereits 2016 in den Strategien zur „Bildung in der digitalen Welt“ der Kultusministerkonferenz. Leider ist jedoch festzustellen, dass der flächendeckende Ausbau dieses Ziels noch stark vorangetrieben werden muss. Dies wird zumindest im "DigitalPakt" Schule deutlich. Mit diesem Pakt wollen Bund und Länder für eine bessere Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik sorgen.

Die Entwicklungen von Kitas, Schulen und Hochschulen, mit Blick auf unterschiedliche Akteur*innen, Bildungsaufträge und Rechtsgrundlagen, unterscheiden sich. Nicht zu vergessen sind auch die außerschulische bzw. nicht institutionalisierte Bildung, die sich "neben" dem Regelsystem etabliert haben, aber nur selten im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Diskurse stehen. Dennoch handelt es sich hier ebenso um Lehr- und Lernorte, die trotz ihrer "Verborgenheit" nicht weniger bedeutsam für die Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen, Überzeugungen usw. sind (vgl. Schweder 2019, S. 5).

Das digitale Lernen bietet großes Potenzial zur Individualisierung der Lernprozesse. Ein konkretes Beispiel hierfür ist das adaptive Lernen. Beim adaptiven Lernen wird das digitale Lernsystem zum "Lernassistenten". Durch die Messung verschiedener Parameter der Nutzung und im Vergleich mit anderen Lernenden kann das Lernsystem dem Lerner Vorschläge für den weiteren Lernprozess anbieten. Um dies zu ermöglichen, muss sich das Lernsystem an Konzepten der künstlichen Intelligenz orientieren (vgl. Goertz 2014, S. 23 ff.).

Wie schaffen wir es, aus Erfahrungen während der Corona-Krise zu lernen, um wichtige digitale Entwicklungen voranzutreiben?

In vielen Bildungsinstitutionen haben sich in der Zeit der Corona-Krise z.B. digitale Lernplattformen etabliert. Diese setzen eine digitale Ausstattung und Infrastruktur voraus. Damit allein ist es aber nicht getan. Eine zentrale Voraussetzung ist es, digitale Geräte im Bildungskontext als Werkzeuge und nicht als Konsumgeräte den Lernenden verständlich zu machen. Es braucht engagierte Bildungsakteure mit einer entsprechenden Haltung. Erzieher*innen, Sozialpädagogen*innen, Lehrer*innen, Hochschullehrer*innen und alle involvierten Bildungsakteure müssen, über gezielte Projekte hinaus, die digitalen Veränderungen ihres Arbeitsalltags aufgreifen und zusätzliche Impulse und empfohlene Qualitätsverbesserungen umsetzen (vgl. Terhart 2011, S. 217). Ebenso sind die Wissenschaft und die Politik gefordert, Veränderungen zu begleiten, zu reflektieren und zu steuern. Folglich besteht die Chance, digitale Veränderungen langfristig zu etablieren. Dabei muss die Technik der Pädagogik folgen.

Auf dem skizzierten Weg ist es elementar, Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Eine strukturelle Benachteiligung bildungsferner Bevölkerungsgruppen darf es nicht geben. Die gesellschaftlichen Folgen einer Krise sollten dazu führen, innezuhalten, um sie zu verstehen und auch lebenspraktisch bewältigen zu können. (vgl. Zierer, 2020) "Bildung umfasst nicht nur Wissen und Können, sondern ebenso Herz und Charakter, nicht nur das Wahre, sondern auch das Schöne und das Gute. Es geht also um all das, was den Menschen zum Menschen macht. Kurzum: Es geht um Haltungen." (Zierer, 2020) Die (Selbst-)Bildung mündiger Bürger*innen, die an der Gesellschaft teilhaben und sie mitgestalten, muss das Ziel aller Bemühungen darstellen (vgl. Arbeitsgruppe DivER 2020, S.2).

Die gesellschaftlichen Folgen einer Krise sollten dazu führen, innezuhalten, um sie zu verstehen und auch lebenspraktisch bewältigen zu können.
von Janina Gerdes

Hierfür muss Bildung im Zusammenhang gedacht werden. Ein erfolgreicher und kontinuierlicher Bildungsverlauf eines Individuums kann durch abgestimmte Bildungsangebote und Kooperation der Bildungsakteur*innen entstehen. Mit einem Bildungsverlauf ist die Teilhabe eines Menschen während seiner gesamten Lebensgeschichte an Positionen innerhalb des Bildungssystems gemeint. Bildung in einem erweiterten Verständnis, nimmt die Bildungsbiografie eines Menschen über den gesamten Lebensverlauf im Zuge des lebenslangen Lernens in den Blick. In diesem Zusammenhang kann man von Bildungsketten sprechen. Der Begriff Bildungskette bezeichnet die Gesamtstrategie einer Kommune und ihrer Netzwerkpartner, die vielfältigen Bildungsangebote vor Ort in einer lokalen Bildungslandschaft bestmöglich zu verzahnen und alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auf ihrem Bildungsweg individuell zu begleiten und zu fördern (vgl. Weinheimer Bildungskette). Hierfür bedarf es jedoch einem gemeinsamen Verständnis ineinandergreifender Bildungsangebote, welches regional abgestimmt werden muss.

Pädagogische Professionalität im deutschen Bildungssystem

Beschäftigt man sich mit der Relevanz des pädagogischen Handelns in Bezug auf Bildung, wird deutlich, dass diesem Handeln eine besondere Bedeutung zukommt. Dies unterstreichen so genannte Arbeitsbündnisse. Ein Arbeitsbündnis besteht aus einer pädagogischen Arbeitsbeziehung sowie aus der Vermittlung von Inhalten. Es beschreibt eine Handlungssituation und gleichzeitig einen bestimmten Zustand der Beziehung. (vgl. Hecht, 2009 S. 61f) Melanie Keim (2015) plädiert im Magazin "Akzente" der pädagogischen Hochschule Zürich für individuelle Lernprozesse. Lernen lässt sich nicht auf eine einfache Definition reduzieren so Keim (2015). Diese Erkenntnis ist nicht neu, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung. Bildungsinstitutionen werden auf den Faktor der Wissensvermittlung reduziert und ihrer sozialen, non-formalen und informellen Bildungsprozesse beraubt. Produktives Lernen wird möglich, wenn sich Lernende in eine Sache vertiefen (vgl. Keim, 2015). Lernangebote sollten situativ an den Verlauf des Prozesses und die Bedürfnisse der Lernenden angepasst werden. Es braucht diagnostische Kompetenz und didaktisches Geschick, Materialien so einzusetzen, dass diese individuelle Förderung ermöglicht (vgl. Keim, 2015).

Die Herausforderung besteht darin, in eine Balance zwischen der notwendigen persönlichen Beziehung und den wertvollen digitalen Ressourcen zu kommen.
Von Janina Gerdes

Das bedeutet wiederrum, dass es auch für digitale Medien einen professionellen Einsatz bedarf und pädagogische Arbeitsbündnisse für den Lernprozess von großer Bedeutung sind. Die Nutzung digitaler Kommunikationsmedien kann analoge soziale Praxen der Kommunikation aber nur beschränkt ersetzen. Homeschooling ist sicherlich keine dauerhafte Lösung für die Zukunft, da sich Grenzen hinsichtlich der Überforderung von Eltern und der Verstärkung bildungsbenachteiligender Aspekte ergeben. Ebenso lassen sich Grenzen in der aktuell rein digitalen Hochschullehre feststellen, wenn deutlich wird, dass E-Learning Formate nicht passen und folglich entwickelt bzw. weiterentwickelt werden müssen. Es braucht eine Mischung zwischen gelebter Beziehung und dem unterstützenden Einsatz von digitalen Medien. Hierfür muss eine Akzeptanz neuer Technologien hergestellt werden mit der Kompetenz diese souverän nutzen zu können. Die Herausforderung besteht darin, in eine Balance zwischen der notwendigen persönlichen Beziehung und den wertvollen digitalen Ressourcen zu kommen. Hier braucht es Sensibilität für einen altersgerechten und sinnvollen Einsatz von digitalen Medien sowie notwendigen pädagogischen Arbeitsbündnissen. 

Fazit

Ein Blick in die Zukunft muss einem Blick in die Vergangenheit folgen. Denn Perspektiven, die sich ergeben könnten, müssen an Erfahrungen der Pandemie anknüpfen, um diese zukunftsfähig zu machen. Somit müssen Antworten auf dringliche Fragen, wie z.B. der Bildungsteilhabe, Infrastruktur- und Ausstattungskonzepte und individualisierter Lernprozesse gefunden werden, um Lösungen zu entwickeln oder von bereits bestehenden Konzepten zu lernen. Wünschenswert wäre es, dass in der Krise Erlernte beizubehalten, z. B. erlernte Selbstorganisation zuzulassen und die Digitalisierung im Kontext digitaler Bildungs- und Arbeitsformen umsetzungsorientiert voranzutreiben. An dieser Herausforderung müssen alle mitarbeiten: Politik, Wissenschaft und Praxis. Ein weiter Blick ist notwendig, damit eine Rückkehr zur Normalität gelingt. Ein großes Ziel eines „neuen“ Alltags sollte es sein, unseren Lernenden personalisierte und individualisierte Wege zu eröffnen. Fest steht: Es wird zukünftig kein entweder analog oder digital geben. Die Umsetzung wird ein Langzeitprojekt für das wir mehr als ein Erste-Hilfe-Pflaster benötigen! Lassen Sie uns mit Innovationsfreude in flexible und digitale Bildungskonzepte investieren mit dem großen Ziel eine Verbesserung der Chancengleichheit zu erwirken.

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Wissenschaftliche Mitarbeiterin | Institut für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit


Janina Gerdes


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