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Recht & Verwaltung18 März, 2021

Corona: Wenn Emotion und Logik ihre Wege gehen

Von Dörte Mülheims | Dipl.-Pädagogin, Managementreferentin, freie Fortbildnerin für Kitaleitungen "Kibequa"

Ein Interview zu einem Jahr Pandemie mit Emotio und Ratio

Hätten Sie es vor einem Jahr gedacht? Dass die Pandemie den ersten Geburtstag erlebt, dass die Bedingungen in den Kitas, den Kommunen, in Deutschland und der Welt nicht einfacher, sondern vielfach schwieriger geworden sind?

Für diesen Beitrag hatte ich mir vorgenommen, Interviews zu führen zu „Ein Jahr danach“. Es sind dutzende Gespräche geworden: Mit Kitaleitungen, Trägervertretern, Fachkräften, Eltern und Kindern. Die unterschiedlichsten Herausforderungen und Lösungen, Meinungen und Geschichten, oft sehr berührend und bewegend wurden erzählt. Am Ende stand ich vor der Situation, mich entscheiden zu müssen: Wer soll hier zu Wort kommen? Bei den Überlegungen wurde klar: In JEDEM Gespräch hatten wir zwei Beteiligte, die nicht offiziell eingeladen, aber immer dabei waren. Die sich quasi „eingeschlichen“ hatten und aus dem Hintergrund die Interviews führten.

Nicht die Bedingungen, nicht die Vorgaben, nicht die Bedrohung durch das Virus, nicht das AUSSEN war und ist der entscheidende Faktor. Es ist das INNEN mit den beiden Beteiligten in jedem von uns, die ich interviewe. Sie beide besitzen den Schlüssel für das Leben ein Jahr danach: Emotio und Ratio

Wie beschreiben Sie Ihre Situation ein Jahr nach Ausbruch der Corona Pandemie?

Emotio: Achterbahn ist wohl die zutreffendste Beschreibung. Ich sause in die Tiefe und habe Angst, persönlich vor der Stärke und den Auswirkungen des Virus auf meine Gesundheit und mein Leben und wie sich die Situation in den Kitas und gesellschaftlich entwickelt. Dann schaltet sich die Verwirrung ein und ich weiß nicht, wie ich die vielen sich teils widersprechenden Informationen einordnen soll. Die Unsicherheit gesellt sich auch häufig dazu: Was ist für mich, für die Kinder, für uns alle das Beste?

Manchmal kocht die Wut hoch: Weil Ratio über mich entscheidet und ich mich so hilflos fühle. Dann geht es wieder aufwärts: Zuversicht in mich, dass ich stark genug bin, Freude über Kinderaugen, die mich anstrahlen, weil es ein schöner Tag war, ein herzliches Dankeschön von anderen für meine Anstrengungen. Dann bin ich gerade oben und schon geht es wieder abwärts. Diese Geschwindigkeit macht mir echt zu schaffen.

Ratio: Ganz klar: Ein unfreiwilliger Marathon. Startschuss im März, ich sammle unterwegs Daten, Fakten, Expertenmeinungen, stelle Prognosen auf. Manchmal habe ich viel Luft und komme gut voran mit den Lösungen. Die Situation in den Kitas bessert sich zum Sommer hin. Ich bin trotzdem ständig gefordert, weil ich weiß: Der Weg ist noch lang, das Ziel noch weit weg. Ich verhandle, wo ich kann, treffe Entscheidungen, die immer nur Einige gut finden und ich weiß, Emotio gehört oft nicht dazu. Leider kann ich darauf selten Rücksicht nehmen. Dann geht die Strecke bergauf, die Schwierigkeiten fordern mich.

Aber ich weiß: Seit vor 300 Jahren in der Aufklärung meine Stärke entdeckt wurde, ist klar: Es gibt immer einen Weg. Es gilt nur, ihn zu finden und klug umzusetzen. Wer Marathon läuft, der kennt auch die Momente, in denen ich schwanke, wo die Beine so schwer sind, dass Gedanken an Aufgeben kommen. Mein ganzes Wissen scheint gegen einen winzigen Virus-Gegner nicht zu wirken, meine Strategien sind nicht effektiv genug, immer läuft er einige Schritte voraus. Aber ich kriege ihn, das weiß ich, die Vernunft siegt am Ende.

Worin besteht für Sie beide denn die größte Herausforderung dieser Zeit?

Emotio: Ich bin in meinen Grundfesten erschüttert, meine Sicherheit ist oft dahin. Hinzu kommt, dass ich mein wichtigstes Bedürfnis nach Nähe, nach Freunden und Familie nur sehr eingeschränkt erfüllen kann. Das macht mich traurig und hilflos. Ich habe nicht gut gelernt, mit so viel Entfernung und Unsicherheit umzugehen. Das hat sich in diesem Jahr nur wenig geändert. Und wenn ich noch ein kindliches Emotio bin, dann brauche ich unbedingt die erfahrenen, Älteren, die für mich da sind. Die größte Herausforderung ist also: Wie lerne ich schnell, mit all meinen wenig erfüllten Bedürfnissen gut umzugehen? … und: Ich sehne mich so nach Normalität. Ich will mein altes Leben zurück und spüre doch, es wird nicht wiederkommen.

Ratio: Meine erste große Herausforderung: Schwierigkeiten, für die es kein Vorbild und keine eingeschliffenen Wege gibt, so gut wie möglich zu lösen. Das Wissen vieler Einzelner so zusammenzubringen, dass es allen hilft. 

Zweitens: Rational ist mir klar, dass die Kinder mit ihren kleinen Ratios besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Sie lernen nicht so viel (wobei ich mir da gar nicht sicher bin, ob sie nur einfach etwas anderes lernen, als wir möchten), haben nicht so viele Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten, ihnen fehlen die Freunde. Da sind wir Erwachsenen wirklich gefragt. 

Die dritte große Herausforderung: Es geht vieles so gut mit der digitalen Technik. Bei etlichen Trägern tut sich etwas: Hardware und Software wird gekauft und auch vielfältig fortgebildet. Aber noch viel zu wenig! Und selbst wenn wir keine Pandemie hätten. Mich macht es betroffen, dass in einem der reichsten Länder der Welt die Ausstattung mit moderner Technik in der Pädagogik noch nicht flächendeckend vorhanden ist und der Umgang damit auch nicht selbstverständlich. Wie also statten wir die vielen Menschen mit den digitalen Medien und dem Wissen aus, damit konstruktiv umzugehen?

So viele Schwierigkeiten und Hürden: Sehen sie beide denn auch Chancen?

Emotio: Ja natürlich gibt es sie. Ich entdecke mit jedem Monat Pandemie mehr, wie wichtig gute Beziehungen sind. Vor lauter Tun und Fülle sind manche Beziehungen wirklich zu kurz gekommen. Ich dachte, ich kenne alle Kolleginnen und Kollegen in meinem Kita-Team und merke jetzt, ob ich sie tatsächlich kenne oder mehr an ihnen vorbeigearbeitet habe. Ich freue mich über tiefere Begegnungen, über mehr Zusammenhalt und Unterstützung. Das sich umeinander Kümmern tut einfach gut und führt wieder zu Nähe. Auch die Zeit mit einem einzelnen Kind bewusst zu erleben, anstatt an die zu denken, die gerade nicht da sind: Das tut gut.

Stolz können wir auch sein: Ich fühle mich immer sicherer mit Konferenzen per Video-Chat und Online Fortbildungen mit neuen tollen Menschen. Unsere kreativen Ideen wie Zauncafés, Fensterbazare, digitale Morgenkreise und Angebote für die Familien, Podcasts mit Lesungen der beliebtesten Kinderbücher bis hin zu eigenen Youtube-Kanälen: Wow, was wir alles erfunden haben, um in Beziehung zu sein und wie viel Freude wir damit auslösen, das ist wirklich großartig.

Eines ist mir noch ganz wichtig: Wenn ich nicht auf der Erfahrung der Vergangenheit aufbauen kann und wenn die Zukunft auch ungewiss ist, dann kann ich mich auf den Moment, auf das JETZT konzentrieren. Den Augenblick genießen, das früher Selbstverständliche als besonders wertschätzen, das Gespräch über den Zaun mit der Mutter intensiv wahrnehmen, dem Kind beim Entdecken der Welt zusehen und ihm einen guten Impuls geben: Das macht Freude, das erfüllt mein Herz!

Nein, ich bin doch noch nicht fertig: Eine riesen Chance ist es, dass wir uns besser erkennen und gegenseitig mehr achten. Wenn Menschen über uns, über ihre Emotionen reden, sich darüber bewusst werden, dann bekommen wir wieder eine größere Bedeutung. Die Kitaleitung bezieht dann die Bedürfnisse als wichtige Führungsgrundlage mit ein, Empathie kann viel mehr gelebt werden in Situationen, in denen alle nach Sicherheit und Nähe suchen. Eine Welt, in der neben den Zahlen und Fakten auch nach uns, den Bedürfnissen und Emotionen gefragt wird, führt zu anderen Fragen: Brauchen wir etwas wirklich, um glücklich zu sein? Was benötigt ein Kind tatsächlich, um mit Freude sein Potenzial zu entwickeln? Was macht einen Träger zu einem anziehenden Arbeitgeber? 

Ratio: Diese vielen Chancen kann ich noch ergänzen. Überlegtes, vernünftiges Denken und Handeln braucht Zeit. Wenn ich als Ratio wirklich eine Chance bekomme, dann minimieren sich die übereilten, kurzsichtigen Entscheidungen und Handlungen. Dann wird tatsächlich abgewogen.

Die Entscheidungen werden sachlich erläutert und auch die immer auftretenden Risiken dargestellt. Ich weiß, dass jede Entscheidung einige zufriedenstellt und andere nicht. Das kann ich nicht ändern, aber ich kann die unterschiedlichen Ratios an einen Tisch holen und an der Akzeptanz arbeiten.

Wie zur Zeit der Aufklärung kann auch jetzt die Vernunft dazu beitragen, sich von überholten Vorstellungen und ideologischen Verstrickungen zu befreien. Das kann von gesellschaftlichen Themen (Schränkt der Mundschutz meine Freiheit als Bürger ein?), pädagogischen Diskussionen (Ist das seit Jahrzehnten gefeierte Fest wirklich notwendig für eine gute Pädagogik?) reichen bis hin zu Führungsfragen (Wie schaffen wir eine herzliche Kultur des lebenslangen Lernens und der Zukunftsorientierung?).

Noch eine weitere Chance steckt in der Pandemie: Ich, Ratio, trage dazu bei, eine sinnvolle technische Ausstattung und Ausbildung aller Pädagoginnen und Pädagogen zu erreichen. Kinder, die in einer Welt aufwachsen, in der Technik nicht mehr wegzudenken ist und in immer schnellerem Tempo Einzug hält, brauchen Fachkräfte und Führungskräfte, die sich auskennen. Es darf ruhig ein bisschen schneller gehen!

Und zuletzt: Corona verstärkt in alle Richtungen. Dort, wo es bisher schon bestens gelaufen ist, dort zeigt sich das jetzt in besonderer Weise. In den Einrichtungen und bei den Trägern, bei denen Themen schon vorher im Argen lagen, werden die unbearbeiteten Probleme jetzt deutlich wie nie. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn überall die Vernunft siegt, das Wegschauen endet, konkret an Lösungen gearbeitet wird. Wie sich die pädagogische Welt in Pandemiezeiten und danach entwickeln kann zu Gunsten aller, vor allem aber der Kinder

Die Bewältigung der Pandemie fordert Menschen kurzgefasst auf, sich ihrer Emotionen bewusst zu sein, aktiv Wege zu suchen, ihre eigenen und die Bedürfnisse der Kinder zu stillen und über den Weg der Achtsamkeit neue Wege zu finden, ein Miteinander von Freude und Empathie zu leben. Gleichzeitig trägt Sachlichkeit dazu bei, mit den tatsächlich großen Herausforderungen besser umzugehen und Probleme, die sich durch die Pandemie verstärkt zeigen, gezielt zu lösen.

Für mich stellt sich bei allen diesen Möglichkeiten trotzdem die Frage, wie Sie beide gemeinsam in dieser außergewöhnlichen Situation wirken. Bis jetzt sieht das eher nach getrennten Wegen aus. Wozu möchten Sie sich gegenseitig einladen?

Ratio: Hier möchte ich gerne beginnen. Rational betrachtet sind wir beide zwei Seiten des gleichen Menschen. Wir existieren schon immer miteinander. Die Frage ist, wie wir zusammenwirken. Diese Pandemie fordert uns beide seit einem Jahr in extremer Weise und ich denke, wir können diese Situation immer besser meistern, je mehr wir bewusst voneinander wissen und uns ergänzen. Ich lade dich ein, uns ganz bewusst zu verbinden und ich habe dazu auch schon Ideen. 

Die Feinfühligkeit der Emotionen verbinden mit der Fähigkeit der Logik: Dinge, die passieren, im ersten Moment stehen zu lassen, ihnen tatsächlich Zeit zu geben. Die Emotionen, die kommen, wahrzunehmen und auszusprechen. Und dann mit den rationalen Erkenntnissen zu verknüpfen um erst danach zu handeln. Hier ein Beispiel: Eine neue Entscheidung der Landesregierung kommt über den Träger in die Kita. Durchatmen, ankommen lassen, Emotionen wahrnehmen und darüber sprechen, Umgangsweisen sammeln, die bestmögliche heraussuchen und erst dann handeln.

Ich lade dich ein, gewohnte Verhaltensweisen auf den Prüfstand der aktuellen Sinnhaftigkeit zu stellen. Das bedeutet keine Abwertung für die Vergangenheit, es macht den gedanklichen und emotionalen Weg frei für neue Lösungen, die uns auch in der Zukunft immer wieder abgefordert werden. 

Außerdem können wir überprüfen, wie wir uns das Leben mit Corona einfacher machen. Lass uns mal ungewöhnlich denken! Wenn sich dieser kleine Virus schon seit einem Jahr einlädt, ohne zu fragen, wie wäre es, wenn wir ihn innerlich akzeptieren. Ihn bekämpfen: Das kostet viel Energie und bringt schlechte Gefühle mit sich. Ihn so zu lassen und die Energie in das Finden von Wegen stecken, wie er möglichst wenig Schaden anrichten kann: Das ist ein schon in einigen Kitas erprobter Weg. Vom Reagieren zum Agieren kommen. Was denkst du?

Emotio: Das klingt tatsächlich gut. Es fordert mich trotzdem ganz schön, denn es bedeutet ja, dass wir beide selbst verantwortlich sind, wie wir mit einer Situation umgehen. Lieber Ratio: Ich lade dich ein, deine Vorstellungskraft und dein Planungsvermögen einzusetzen, um meine für die Situation hilfreichen Gefühle zu aktivieren.

Wenn du mir einen Plan gibst, dann kann ich mutiger sein. Wenn du mir zeigst, was ich beeinflussen kann, dann steigt meine Zuversicht. Deine Entscheidungsfähigkeit gepaart mit meinem intuitiven Wissen um die Kraft des Optimismus: Was soll uns aufhalten, auch diese schwierige Pandemiesituation immer besser zu meistern.

Mit meiner Empathie und deiner Fähigkeit, Szenarien zu entwickeln, können wir uns in andere Menschen versetzen und sie unterstützen, egal ob Kinder, Eltern, Team oder Leitung oder Träger. Deinen Ideenreichtum für die Beschaffung digitaler Medien verknüpfen wir mit meinen Erfahrungen, dass ich es schaffen kann, meine Komfortzone zu verlassen. Wir sind ein Dreamteam!

Zu guter Letzt

Danke Ihnen beiden von Herzen für dieses Interview. Wenn Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, Emotio und Ratio in ihrem inneren Dialog begegnen, dann ermöglichen Sie ihnen eine gute Zusammenarbeit. Wenn die Pandemie eines gezeigt hat, dann: Wir erwachsenen Menschen sind stark, wenn wir unser ganzes Potenzial nutzen. Entscheidend ist unser INNEN, um im Außen besonders für die Kinder wirksam zu sein.

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