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Recht & Verwaltung14 Dezember, 2021

Unterrichtsbeobachtungen in Zeiten neuer Lernformen

Das folgende Interview mit Sören Liesener vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung zeigt Herausforderungen für Unterrichtsbeobachtungen in Zeiten neuer Lernformen auf und gibt Beispiele und Instrumente für externe Evaluationen (Hamburger Schulinspektion).

Lieber Herr Liesener, Sie arbeiten im Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung in Hamburg. Bitte skizzieren Sie doch den Auftrag der Hamburger Schulinspektion

Der Auftrag der Schulinspektion hat seit ihrer Gründung im Jahr 2006 Bestand. Es geht unverändert darum, alle staatlichen Schulen in Hamburg Kriterien basiert zu evaluieren. Das dahinter liegende Ziel ist dabei, dass die Schulinspektion einen Beitrag dazu leistet, einen Standard guter Schule für alle Schülerinnen und Schüler Hamburgs zu sichern. Dabei übernimmt die Schulinspektion die vier Funktionen Wissensgenerierung, Rechenschaftslegung, Normenverdeutlichung und Impulsgebung. Seit 2019 befinden wir uns im 3. Zyklus, d.h. wir haben damit angefangen die Hamburger Schulen aller Schulformen zum dritten Mal zu evaluieren. Im Grunde kann man sagen, dass wir an dem Verfahren wenig verändert und nur modifiziert haben, weil es sich in seiner Grundstruktur bewährt hat.

Bei den leichten Modifikationen des Verfahrens haben wir großen Wert auf dialogische Formate gelegt. So erhalten die Schulleiterinnen und Schulleiter beispielsweise unseren Bericht nun bereits vor dem Rückmeldetermin, damit wir dort nicht den Bericht rezipieren, sondern direkt in den Austausch, in den Dialog, mit der Schulleitung oder dem Leitungsteam gehen können.

Wichtig für uns war bei der Weiterentwicklung auch die Erkenntnis, dass uns die Hamburger Schulleitungen, die wir um Rückmeldung zum 2. Zyklus gebeten hatten, eine 5. Funktion zuweisen: die Anerkennungsfunktion. Das hat uns zutiefst gefreut. Insgesamt nehmen wir damit fünf Funktionen wahr und uns ist noch bewusster geworden, dass die Ausprägung der Funktionen von Schule zu Schule unterschiedlich sein kann. Während an der einen Schule die Kontrollfunktion im Vordergrund stehen kann, gibt es andere Schulen, die sich in einem Entwicklungsprozess befinden und für die die Ergebnisse der Schulinspektion wichtige Impulse sein können. Für das Inspektionsteam geht es insofern in jedem Inspektionsprozess um das Austarieren der schulspezifischen Bedingungen bei gleichzeitiger Beachtung der durch den Orientierungsrahmen Schulqualität gesetzten Qualitätsansprüche.

Welche Erhebungsinstrumente werden von der Hamburger Schulinspektion eingesetzt?

Im Vorwege einer Inspektion findet eine schriftliche Befragung aller Schulbeteiligten statt, zudem sichtet die Schulinspektion die schuleigenen Dokumente. An den Schulbesuchstagen führen wir halbstandardisierte Interviews durch.

Vor allem aber finden an diesen Tagen die Unterrichtsbesuche statt, bei denen wir den Unterrichtsbeobachtungsbogen einsetzen (weitere Instrumente im dritten Zyklus – hamburg.de; https://www.hamburg.de/bsb/vertiefende-informationen/4017946/artikel-instrumente/ ). Dieser wurde von uns entlang der drei Basisdimensionen guten Unterrichts »Klassenführung«, »Konstruktive Unterstützung« und »Potential zur kognitiven Aktivierung« konzipiert. Auf Basis dieser Dimensionen werden wir auch in Zukunft, nach der Weiterentwicklung unserer Instrumente, digitalen Unterricht erfassen – nur voraussichtlich mit einem anderen Verfahren.

Was sind Gründe für die Weiterentwicklung der Erhebungsinstrumente?

Wir erwarten, dass wir in Zukunft vermehrt auf Unterrichtssituationen stoßen werden, die wir mit unserem aktuellen Unterrichtsbeobachtungsbogen nicht mehr vollumfänglich erfassen können. Deswegen entwickelt unsere Arbeitsgruppe Möglichkeiten der »Erfassung digitaler und komplexer Lernsituationen«, kurz und liebevoll »EdukL« genannt.

Ein Treiber der aktuellen Entwicklung, eine Umgestaltung der gängigen Unterrichtspraxis, ist sicherlich die Corona Pandemie und dem damit einhergehenden Fern- und Hybrid- bzw. Wechselunterricht. Wir vermuten, dass diese Situation auch nach der Pandemie ihre digitalen Spuren hinterlassen wird. Es ist mir jedoch wichtig zu betonen, dass wir auch bereits vor der Pandemie in Schulen einzelne Unterrichtssituationen vorgefunden haben, die uns Grenzen unseres Beobachtungsbogens deutlich gemacht haben. Die Überarbeitung unserer Erhebungsinstrumente stand daher ohnehin an. Die derzeitige Situation intensiviert insofern nur unsere Bemühungen. Wir erwarten auch im Präsenzunterricht vermehrt die Arbeit mit und den Einsatz von digitalen Medien – und stehen damit vor der Herausforderung, dass digital Unterrichtsprozesse ablaufen werden, die wir als Beobachterinnen und Beobachter analog nicht sehen können.

Was meinen Sie damit genau?

Wir stellen bei unseren Recherchen und Vorüberlegungen fest, dass bei der Beobachtung der digitalen Unterrichtssituation die Herausforderungen beginnen, sobald Teile der Interaktion digital stattfinden. Und zwar sowohl zwischen den Schülerinnen und Schülern, als auch die Kommunikation von und mit den Pädagoginnen und Pädagogen.

So könnte sich in einer Unterrichtssituation die Lehrkraft für die Beobachterin bzw. den Beobachter unbemerkt einen Überblick über die Lernergebnisse der Klasse verschafft haben (Item 04, Unterrichtsbeobachtungsbogen) und einige der Schülerinnen und Schüler anlassbezogen individuell unterstützt haben (Item 17), vielleicht über eine Chatfunktion im verwendeten Unterrichtstool.

Nun ist es uns in unserer Praxis erlaubt, unsere Beobachtungen durch gezielte Nachfragen bei Schülerinnen und Schülern zu ergänzen – sofern die Unterrichtssituation dies hergibt. Wir sind jedoch der Meinung, dass wir bei einer digital ausgelagerten Interaktion zwischen den Schülerinnen und Schülern oder der Lehrkraft, mit unserem bisherigen Verfahren dennoch an Grenzen stoßen können. Entsprechend suchen wir in unserer Arbeitsgruppe nach Ergänzungen oder Alternativen zum bisherigen Instrumentarium.

Wie gehen Sie das an?

Wir haben zunächst einmal den Austausch sowohl mit anderen Inspektoraten bundesweit als auch mit der Schweiz gesucht und erfahren, dass dieses Thema auch dort vielfach obenauf liegt.

Über das Hamburger Projekt »digital macht Schule« gewannen wir Hospitationsschulen, in denen wir uns der skizzierten Herausforderung live stellen wollen. Mit großer Freude konnten wir feststellen, dass wir in Hamburg viele Schulen haben, die das Thema Digitalisierung mit großem Engagement angehen und sich in unseren Telefonaten sehr über unser Interesse gefreut haben. Von dort wurde uns auch Material geschickt sowie Einblicke von den Lehrkräften in deren genutzte Tools gewährt.

Auch über das Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung konnten wir in der Theorie weiterkommen und bekamen praktische Einblicke in das meistgenutzte Hamburger Lernmanagementsystem (LMS Lernen Hamburg).

Zentral für unsere Arbeit ist zudem der lebendige Austausch in unserer AG, die aus praxiserfahrenen Inspektorinnen und Inspektoren sowie Mitgliedern unseres Wissenschaftsteams besteht. Wir haben jedes unserer Unterrichtsbeobachtungsitems auf den Prüfstand gestellt und uns gefragt: Sind die Merkmale für dieses Item bei einer digital versteckten Kommunikation für uns als Beobachter zu erkennen?

Im Laufe des Arbeitsprozesses haben wir uns zunächst den 3 Szenarien Präsenz-, Hybrid- und Fernunterricht zugeordnet und in Zweierteams dort jeweils wichtige Erkenntnisse für den Gesamtprozess sammeln können. Daraus sind sehr spannende Fragestellungen entstanden, die uns langfristig begleiten werden. Exemplarisch wäre hier das Thema zu nennen, ob und wie die Prüfung digitaler Plattformen Teil des Inspektionsprozesses werden kann und wie sich dabei die geltenden Basisdimensionen guten Unterrichts zeigen, zum Beispiel: Setzt digitaler Unterricht auf Plattformen andere Ansprüche an die Klassenführung? Oder auf Merkmalsebene gesprochen: Wie zeigt sich eine digitale Lernbegleitung oder wie findet Beziehungspflege statt?

Wir haben bisher viel über digitalen Unterricht gesprochen, im Titel ihrer Arbeitsgruppe werden aber auch »komplexe Lernsituationen« benannt. Wie ist das einzuordnen?

Priorität hatte für uns zunächst einmal das Digitale. Uns wurde aber schnell deutlich, dass wir unsere Erkenntnisse auch auf andere offene komplexe Unterrichtsformen anwenden können. Unser Ziel ist es, dass neue bzw. justierte Instrumentarium auch in Unterrichtssituationen anwenden zu können, die einem individualisierten Lernen von Schülerinnen und Schülern Raum geben. Zum Beispiel Situationen in denen nicht alle Schülerinnen und Schüler am gleichen Material oder im gleichen Raum arbeiten.

Wie weit sind Sie denn mit den Überlegungen zum neuen Instrumentarium?

Wir haben die digitalen Situationen definiert und entsprechend der zu erwartenden Entwicklung priorisiert. Präsenzunterricht mit digitalen Mitteln steht zunächst im Vordergrund.

Bei den Instrumenten zur Erfassung dieser Sequenzen haben wir vielfältige Möglichkeiten, die wir sorgsam abwägen. So arbeiten wir an den Möglichkeiten, die uns kurze ergänzende Interviews der Schülerinnen und Schüler in der Unterrichtsituation bieten würden und entwickeln eine Erweiterung der Fragebogenerhebung. So könnten uns Schülerinnen und Schüler mittels Filterfragen Erkenntnisse über digitale oder komplexe Lernsituationen liefern, die wir dann wiederum den 3 Basisdimensionen guten Unterrichts zuordnen würden.

Wir haben auch diskutiert, dass ein zweiter digitaler Einblick während oder nach der eigentlichen Beobachtung nicht zielführend ist. Er lenkt vom analogen Blick ab und sorgt weiterhin nicht dafür, dass wir eine digital versteckte Kommunikation sehen können.

Abschließend: Sie haben sich in den vergangenen Monaten intensiv mit digitalem Unterricht auseinandergesetzt, wie ist Ihre persönliche Meinung dazu?

Unterricht mit digitalen Medien bietet allen Schulbeteiligten eine große Vielzahl an Chancen und Möglichkeiten, auch wenn »klassischer« Unterricht (ohne verstärkten Medieneinsatz) immer seinen berechtigten Platz im Schulalltag haben wird. Mir sind in meiner Recherche zwei Punkte sehr im Gedächtnis geblieben – zum einen die Warnung, dass zu viel digitaler Unterricht die Schreibfähigkeit der Schülerinnen und Schüler negativ beeinträchtig und zum anderen eine Passage aus einem Vortrag von Herrn Döbeli Honegger. In diesem zeigt er an einem anschaulichen Beispiel, dass digitale Tools den Nutzerinnen und Nutzern mittlerweile Antworten geben, bevor diese überhaupt die Frage stellen. Auch mein Handy macht mir ungefragt Vorschläge für mögliche Apps, wenn es meine Aktivität oder meinen Aufenthaltsort erkennt.

Wenn man diese Entwicklung weiterdenkt sollte man in Bezug auf Unterricht und den Einsatz digitaler Medien zumindest aufmerksam und kritisch bleiben.

Klar ist aber, dass es auch im digitalen Unterricht immer auf das »wie« ankommen wird. Die Planung und Durchführung der Lehrkraft wird weiterhin entscheidend sein.

Herzlichen Dank, dass Sie für ein Interview zur Verfügung standen!

Bildnachweis: Cecilie_Arcurs/gettyimages.de

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