von Dr. Michael Schratz
Ist die Pandemie ein Katalysator von Schulentwicklungsprozessen?
Stell dir vor es ist Schule und keiner geht hin! Ein tückisches Virus hat den Unterricht auf den Kopf gestellt: nicht mehr die Schülerinnen und Schüler mussten in die Schule kommen, sondern der Lehrstoff zu ihnen nach Hause. Digitale Kompetenzen waren für alle gefragt. Wozu ministerielle Verordnungen, Aus- und Fortbildungsveranstaltungen viele Jahre gebraucht hätten, bewirkten die Schulschließungen von einem Tag auf den anderen.
Offensichtlich benötigen wir Widerfahrnisse der anderen Art, um radikal, d.h. von der Wurzel her, Schule und Unterricht neu zu denken und organisieren. Ist im Alltag etwas verrückt, versuchen wir es möglichst rasch wieder in den »normalen« Zustand zu bringen. Das Unverrückbare stellt die Norm dar, die wir als »Normalität« bezeichnen. Anstatt jetzt in die alte Normalität von Schule zurückzukehren, sollten wir die zentrale Frage stellen: Passen unsere Normvorstellungen von Schule und Unterricht überhaupt noch in unsere Zeit und zu unserer Schülerschaft?
Da Krisen als Problemverstärker und Entwicklungsbeschleuniger wirken, können wir sie als gesellschaftliches Experiment nutzen, um die »Normalität« unserer bisherigen Vorstellung von Schule und Unterricht zu hinterfragen. Die Ausgangslage besteht darin, dass Schule heute über Strukturen von gestern junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern von morgen (aus)bilden soll. Da sich die Unterrichtsstrukturen von gestern als wenig brauchbar erwiesen haben, hat das krisenbedingte »schöpferisches Chaos« Chancen eröffnet, aus den eingefahrenen Strukturen auszubrechen, zu experimentieren und sich auf Unbekanntes einzulassen. O-Ton aus einer Schule: »Corona bildete in dieser Zeit nicht nur eine enorme Herausforderung, sondern auch einen unverhofften Anstoß, überkommene Strukturen infrage zu stellen und aufzubrechen, und das in einer Geschwindigkeit, die in einer normalen Situation unwahrscheinlich gewesen wäre.«
Die gesellschaftliche Dynamik in den Bereichen Umwelt, Geopolitik, Informationstechnologie und jüngst Virologie bzw. Epidemiologie etc. ist rascher als die Entwicklung von Schule und Unterricht: Das Curriculum des Alltags hat die schulischen Akteure oft schon überholt, ehe es über Lehrpläne ins Klassenzimmer kommt. Was uns die Pandemie lehrt: Das gesellschaftliche Zusammenleben baut auf die Selbstwirksamkeit ihrer Teilsysteme. Resilienz bildet die Fähigkeit im Großen (Bildungssystem) als auch im Kleinen (jeder einzelne Mensch) auf unerwartete Krisen und kritische Situationen vorbereitet zu sein. Wir benötigen daher ein Bildungssystem, das sich von überkommenen Strukturen (»Normen«) verabschiedet und Schulen als Verhandlungsorte für eine entstehende Gesellschaft unterstützt. Schulen werden zu Mediatorinnen zwischen Vergangenheit und Zukunft, um die nächste Generation im Sinne Goethes mit Wurzeln (Standhaftigkeit) und Flügel (Innovationskraft) auszustatten.
Aus Forschungsbefunden lässt sich ableiten, dass erfolgreiche Menschen sich dadurch auszeichnen, dass sie die Realität aus der »Wahrheit der Situation« akzeptieren (Schulz von Thun), in ihrer Haltung den Sinn im Leben trotz widriger Umstände bejahen (Frankl), die Fähigkeit besitzen zu improvisieren und innovativ zu denken (Werner) und die schöpferische Gestaltungskraft aus der entstehenden Zukunft gewinnen (Scharmer). Wie sich diese wissenschaftlichen Erkenntnisse umsetzen lassen, haben die vielen Bewerbungen für den Deutschen Schulpreis 20|21 Spezial gezeigt, die den digitalen Rückenwind genutzt, um Schule und Unterricht mit Agilität und lösungsorientierter Flexibilität neu aufzustellen.
An diesen zukunftsweisenden Erkenntnissen sollte sich Schule messen, ob sie noch in unsere Zeit und zu unserer Schülerschaft passt.