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Recht & Verwaltung14 Juni, 2021

Inklusive Prozesse in Corona-Zeiten

von Vicky Hartmann | Referentin mit dem Themenschwerpunkt Integration und Inklusion, Fachberatung ev. Kita, Diakonisches Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V.

Was Teamzusammenhalt, Waldpädagogik und eine digitale Pinnwand gemeinsam haben…

Im letzten Jahr trafen nie da gewesene Herausforderungen auf die Kita. Anhand dreier Beispiele erhalten Sie Einblicke in neue Wege in der evangelischen Kita- und Fachberatungspraxis, die sich im Kontext der Corona-Pandemie entwickelt haben. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf integrativer Arbeit und inklusiver Prozesse in der Kita.

Am 16.03.2020 geschieht das bis dahin Undenkbare: Die Kitas in Deutschland schließen. Kinder müssen plötzlich zu Hause bleiben, ihre Lebenswelt verändert sich unumkehrbar. Manche leben in Familien, die keine Ressourcen haben, um einen kindgerechten Alltag gestalten oder ihre Kinder in dieser schwierigen Situation auffangen zu können. Andere Kinder sind besonders auf anregende Lernumgebungen und gleichaltrige Entwicklungsvorbilder angewiesen, um sich gut entwickeln zu können. Die Notgruppenbetreuung steht zunächst nur Kindern mit Eltern aus systemrelevanten Berufsgruppen offen. Erst nach und nach nimmt die Politik auch andere Zielgruppen wieder in den Blick. Mitte Mai werden Kinder aus besonders belasteten Familien sowie Kinder mit einem festgestellten, erhöhten Förderbedarf regelhaft in die Kriterien für die schrittweise Öffnung der Kitas mit aufgenommen. Ein Aufatmen – und doch noch lange kein Durchatmen. Kita-Leitungen jonglieren mit den Bedürfnissen der Kinder, den Wünschen der Eltern, den Ressourcen Ihrer Teams und den Hygienevorgaben. Fachkräfte in der Kita und Fachberatungen sehen sich plötzlich mit Home-Office und ständig wechselnden Vorgaben des Rahmenhygieneplans konfrontiert. Noch dazu ist die Herausforderung in diesem Jahr besonders groß, sich selbst in all diesen Anforderungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Bleibt dabei noch Raum für positive Entwicklungen?

„Wir waren eigentlich immer hier!“

Corinna Schlüter-Dech ist als Kita-Leitung einer Einrichtung mit zwei Integrationsgruppen und einer Krippengruppe in Clausthal-Zellerfeld im Harz tätig. Für sie und ihr Team war zu Beginn des Lockdowns im März 2020 sofort klar, dass sie mit den Familien und Kindern in Kontakt bleiben wollen und müssen. Im Rückblick stellt Corinna Schlüter-Dech fest: „Wir hatten vom 16.03. bis zum 27.04. geschlossen, aber wir waren eigentlich immer hier!“ Unmittelbar wurde ein Telefondienst in allen Gruppen eingerichtet, den jeweils eine Kollegin aus dem Gruppenteam tageweise übernommen hat. Hier konnten Kinder und Eltern anrufen, sich austauschen, Fragen stellen, aber auch Ängste teilen. Die meisten Familien nutzen dieses Angebot und zeigen sich häufig dankbar für jedes Gespräch. Aus diesem Erfolg entsteht die Idee, weitere Medien zu nutzen und Corinna Schlüter-Dech richtet zusätzlich eine Homepage ein. Fortan finden Familien hier die Informationen zur aktuellen Lage, aber auch Videos für ihre Kinder aus der Kita und Einladungen zum Mitmachen bei verschiedenen Aktionen, wie zum Beispiel für das Projekt des Kita-Verbandes Harzer Land „Kinder schmücken ihren Kita-Zaun“. Hierzu lagen jeweils draußen vor der Kita Materialien und Anleitungen aus, die Kinder zu Hause mit ihren Familien gestalten und an den Gartenzaun der Kita hängen oder legen konnten. Corinna Schlüter-Dech erinnert sich: „Unser Zaun war eigentlich die ganze Zeit bunt, damit sich die Kinder und Eltern angesprochen und trotz allem willkommen fühlen!“ Weiterhin stellt sie fest, dass damit in dieser schwierigen Zeit niemand verloren ging und berichtet stolz: „Die Kollegen waren unglaublich aktiv und immer an den Eltern dran, das war wirklich ganz toll!“

Dieses Engagement zeigt sich auch in einer anderen Situation: In der Region gibt es ein Kind, dass nur unter der Auflage des Kita-Besuches in seinem häuslichen Umfeld bleiben kann. Der Lockdown erschwert diese Vorgaben erheblich. Corinna Schlüter-Dech setzt sich für die Familie ein und in engmaschigen und kurzfristigen Abstimmungen mit den zuständigen Kostenträgern wird das Kind sofort in die Notgruppenbetreuung aufgenommen. Kurze Zeit später liegt das Kostenanerkenntnis vor. Ein Traum der Netzwerkarbeit, der auch für Corinna Schlüter-Dech nachwirkt: „Da war wirklich mal ein vernetztes Arbeiten im Sinne des Kindes möglich, das war schon ein besonderes Erlebnis!“ All das geht nur, weil dieses Team es geschafft hat, sich selbst in dieser bewegten Zeit gut im Blick zu behalten. Es fällt auf, wie wertschätzend und begeistert Corinna Schlüter-Dech von ihrem Team spricht. Im September gab es noch einen gemeinsamen Ausflug des Kita-Teams nach Dresden mit eigens für diesen Tag angefertigten Mund-Nasen-Schutzmasken. Daneben gibt es Treffen im privaten Rahmen und viel Austausch im Team. Aktuell fällt dieser Austausch im persönlichen Kontakt wieder weg, die anhaltenden Herausforderungen nagen an den Energiereserven: „Wir wissen jetzt einfach, dass es länger dauert und das merkt man schon!“ Aber Corinna Schlüter-Dech ist sich auch sicher, dass diese positiven, gemeinsamen Erlebnisse nachwirken. Für den Winter möchte sie Weihnachtsmasken für ihr Team besorgen und sich dazu etwas Lustiges einfallen lassen. Es scheint wie eine Kleinigkeit – und doch sind ja gerade diese Kleinigkeiten in diesem Jahr ganz groß.

„Der Inbegriff von Freiheit“

Melanie Süßmilch arbeitet als Heilpädagogin in der evangelischen Kita Himmelsleiter in Boffzen. Im Frühjahr 2020 hatten sie und ihre Kolleginnen eine Zeit lang zwar über Videokonferenzen Kontakt mit den Kindern, aber in der Kita sehen sich alle erst nach und nach wieder. Melanie Süßmilch erinnert sich, wie es für die Kinder war, in die Kita zurück zu kommen: „Alle Kinder haben sich auf den Kindergarten gefreut, weil sie dachten, es ist, wie sonst auch – aber dann kamen sie und es war doch fast nichts mehr, wie es war!“ Viele Abläufe in der Kita sind plötzlich streng reglementiert. Hinzu kommt noch, dass die neuen Regeln nicht wie sonst gemeinsam mit den Kindern erarbeitet worden sind, sondern stattdessen von den Erwachsenen vorgegeben werden. Melanie Süßmilch und ihre Kolleginnen beobachten, wie machtlos sich die Kinder fühlen. Gemeinsam entsteht die Idee: Es muss wieder mehr Freiräume geben und die wollen sie im Wald schaffen. Durch die Unterstützung der Gemeinde Boffzen wird eine Grillhütte am Waldrand für die Kita zur Verfügung gestellt. Wiederum zeigt sich ein Gewinn, wenn Eltern über gängige Kommunikationsdienste erreicht werden können: Eine Familie nimmt eine andere mit in den Wald, die allein vielleicht nicht den Weg gefunden hätte. So kommen jedes Kind und jede Familie unabhängig von ihren Ressourcen im Wald an und blühen auf. Melanie Süßmilch beobachtet sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern und im Team große Veränderungen. Für die Kinder ist nun wieder eine bedürfnisorientiertere Pädagogik möglich, es gibt gleichermaßen Rückzugsorte wie Freiraum zur Bewegung. Vielfältige, pädagogische Themen sind umsetzbar, ohne derartig stark durch die Hygienemaßnahmen eingeschränkt zu sein. Jeder Tag startet zum Beispiel mit Selbstachtsamkeit, in dem alle gemeinsam die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spüren oder den Nebel im Wald sehen, den feuchten Boden riechen oder die Vögel zwitschern hören. Ein Ansatz, der nicht nur in diesen Zeiten vielversprechend und gewinnbringend sein kann.

Ohne Mund-Nasen-Schutz oder andere Kommunikationsbarrieren, öffnen sich Familien im Wald wieder mehr. Melanie Süßmilch berichtet, dass so die Gelegenheit entsteht, auch nochmal über den Lockdown zu sprechen: „Vielen Familien ging es ja gut, aber einigen Familien auch nicht, und da war es sehr wertvoll, das zu hören. Das haben uns die Eltern auch gespiegelt, dass das gut war.“ Ebenso fühlt sich das Gruppenteam wieder besser: Wieder mehr Platz für die Kinder, mehr Raum für pädagogische Themen. Melanie Süßmilch erzählt: „Es war für uns mindestens genauso schön wie für die Kinder! Einfach stressfrei im Vergleich zu diesem neuen Kita-Alltag, der für uns Erzieherinnen immer mit Stress verbunden war! Im Wald war alles komplett unbeschwert – einfach der Inbegriff von Freiheit!“ Aus einer kurzfristigen Lösung wurde ein langwieriges Projekt, inzwischen ist die Waldpädagogik ein Schwerpunkt der integrativen Gruppe geworden, auch auf Wunsch und Beteiligung der Kinder hin. Der Wald ist für alle Beteiligten ein positives Sinnbild, die schönen Erlebnisse und die intensive, gemeinsame Zeit wirken nach und helfen durch stärker reglementierte Zeiten. Melanie Süßmilch findet dazu ein sehr passendes, sprachliches Bild: „Wenn man ein Gefühl von warmer Suppe im Bauch hat, dann kann man davon zehren!“

„Das Padlet fällt nicht aus!“

Die Fachberatung Ev. Kita im Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen ist als übergeordnete Fachberatung und Fortbildungsanbieter, neben Fachberatungen und pädagogischen Leitungen vor Ort, für über 600 Einrichtungen der Landeskirche Hannovers zuständig. Im Frühjahr 2020 müssen sich auch Fachberatungen erst einmal komplett umstellen. Fortbildungen fallen aus oder werden wiederholt verschoben, neue, digitale Formate müssen entwickelt werden. Fachliche Themen treten zunächst in den Hintergrund, weil sich alles um Hygienemaßnahmen, Notbetreuung und die weltweite Notlage dreht. Aber unverhofft entstehen auch an dieser Stelle Freiräume.

Die digitale Kommunikation und Weiterbildung entwickeln sich rasant weiter und zeigen immer wieder neue Möglichkeiten auf. So entsteht meine Idee für ein Padlet mit aktuellen Fachinformationen. Ein Padlet ist eine digitale Pinnwand, das in der Schule, in der Erwachsenenbildung oder im Freizeitbereich genutzt wird. Schon lange hatte mich die Frage beschäftigt, wie ich den Funken der Inklusion in der Kita weiterverbreiten und interessierten Kitas Informationen zur Verfügung stellen kann. Als Barrieren stellten sich bisher immer die Probleme heraus, dass pädagogische Fachkräfte keine eigene, dienstliche Mailadresse haben und Informationen häufig in der allgemeinen Flut an Mails im Kita-Posteingang untergehen. Hier eröffnet das Padlet plötzlich neue Wege: Für dieses Online-Tool ist keine Anmeldung nötig, wer den Link besitzt, kann das Padlet einsehen. Das bedeutet, die Fachkräfte haben auch von ihrem Smartphone, vom Laptop der Gruppe oder von zu Hause aus Zugriff. Am Anfang des Padlets finden alle Nutzer*innen einen Nutzungshinweis: Dieser sichert ab, dass die eingestellten und verlinkten Informationen nicht unsachgemäß weiterverbreitet werden. Die Beiträge sind in unterschiedliche Farben und Blöcke gegliedert: Es gibt Bilderbücher- oder Fachbüchertipps, Filmhinweise, aktuelle Informationen zu verschiedenen Themen oder Neuigkeiten aus der Fachberatung Ev. Kita. So können sich Nutzer*innen selbst entscheiden, welche Beiträge sie sich durchlesen und ggf. abspeichern möchten und welche nicht. Noch ist das Padlet nicht in allen Einrichtungen bekannt. Wie bei allen anderen Angeboten auch, braucht es viele Wiederholungen, bis so ein Medium in den meisten Kitas angekommen ist.

Dennoch: Im Gespräch mit anderen Fachberatungskolleginnen im Herbst wurde noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, dass abseits der Corona-Regelungen ebenso fachliche Themen zugänglich sind und bearbeitet werden können. Das Padlet bietet hier Anknüpfungspunkte für Arbeitsgruppen oder Kita-Teams, pädagogische Themen wieder bewusst in den Fokus zu rücken und dazu ins Gespräch zu kommen. Angesichts der aktuellen Lage ist die Pinnwand flexibel einsetzbar. Das Padlet kann sowohl digital als auch analog angeschaut und diskutiert werden und was vielen Nutzer*innen besonders wichtig ist: Es fällt nicht aus oder wird abgesagt. Darüber hinaus entsteht ein weiterer, positiver Nebeneffekt. Da ist jemand, der Informationen für mich einstellt, da sind andere, die die Beiträge ebenfalls lesen. Das schafft ein Gefühl davon, gemeinsam dran zu bleiben und zusammen weiter für Inklusion zu kämpfen, unabhängig davon, was sonst in der Welt so los ist.

Fazit

In den vorliegenden Praxisbeispielen zeigen sich verschiedene Schlüsselfaktoren: Wenn den Kindern, den pädagogischen Themen, der Teampflege und der Zusammenarbeit mit Familien ein hoher Stellenwert beigemessen wird, können trotz Einschränkungen positive Entwicklungen gestaltet werden. Dabei bieten krisensichere Informations- und Kommunikationsangebote neue Freiräume, kontaktarme Zeiten wirksam überbrücken zu können.

 

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Referentin mit dem Themenschwerpunkt Integration und Inklusion, Fachberatung ev. Kita, Diakonisches Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V.

 

Vicky Hartmann

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