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Recht & Verwaltung10 August, 2021

Auf Spurensuche nach einer Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung

von Beate Rempe | Einrichtungsleitung der AWO Kita Stade und Fachberatung für die AWO Soziale Dienste Bezirk Hannover gGmbH

Was bedeutet Vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung für mich

Was bringe ich mit? Was hat mich geprägt und welche Aufgaben habe ich daraus für meinen Beruf und für meine Rolle als Mutter abgeleitet? Ich beschäftige mich bei der Arbeit im Team immer auch mit der Herkunft und den Bildungsverläufen der Menschen, die dort arbeiten. Wo bist du aufgewachsen, welche Möglichkeiten standen dir bereit, was waren Wünsche deiner Eltern für dich…? Schubladen zu kennen und aktiv zu nutzen, hemmt und hilft uns gleichermaßen bei der Interaktion mit anderen Menschen. Wenn wir dazu noch erlernte Muster der Macht, der Reflexion und kulturellen Sichtweisen kennen, können wir Menschen besser verstehen und das hilft bei der positiven Betrachtung.
Beate Rempe

Was heißt das eigentlich, sich seiner Vorurteile bewusst zu sein und wie finden wir in der Praxis gute Antworten darauf?

Ich begebe mich auf Spurensuche und finde in der Praxis immer gute Beispiele – leider auch für die falsche Herangehensweise. Aber gut, Erfahrungen sind nun mal die Grundlage für Vorurteile. Sie müssen gemacht werden, um überhaupt einen kritischen Blick auf das eigene Handeln zu erhalten.

Worüber wir nicht mehr sprechen müssen, ist die Bereitstellung von diversen Materialien. Es gibt katalogweise Erkenntnisse, die man auf Knopfdruck in der Kita unterbringen kann.

16 verschiedene Stifte für Hautfarben, Puppen unterschiedlicher Herkunft, Bücher über Mädchen, die Ingenieurin werden und Papas, die in Elternzeit sind. Wir haben interreligiöse Kalender und begrüßen alle Kinder in ihrer Herkunftssprache – gut sichtbar im Eingangsbereich.

Auch bei der reizvollen Umgebung finde ich es toll, eingerichtete Bereiche in Kindertagesstätten vorzufinden, die zum interaktiven Ausprobieren einladen. Ich begrüße auf Elternabenden Referenten und Referentinnen zu verschiedenen interkulturellen Themen und eröffne Feste der Nationen. Ich liebe all diese Momente, denn sie entsprechen meiner Überzeugung und ich möchte dafür begeistern.

Der positive Blick auf das Kind

Worüber wir aber sprechen müssen, ist die Haltung zu den Materialien und den Menschen, die sie nutzen. All das nützt gar nichts, wenn es nicht gelebt wird, Platz gemacht wird und es ein Teil des Ganzen sein darf.

Ich möchte hier werben für den positiven Blick auf das Kind, möchte weg von diesem ewigen Gesuche nach dem Defizit. Denn das ist aus meiner Sicht eine der größten Wenden in der Pädagogik. Wenn in den Teams gearbeitet wird mit denen, die da sind und ihr Bestes für die eigene Entwicklung und den Platz in der Gemeinschaft geben. Ich denke so oft an den Spruch aus der open space Methode: »Die, die da sind, sind genau die Richtigen!« Das müsste ein Leitsatz über der Eingangstür von Kindertagesstätten sein. Naja, schauen wir mal, ob ich Ideen habe, wie das gelingt.

Der Blick ins Team

Als Erstes einmal die Frage: Wie sollen Menschen eine gesprächsoffene und antidiskriminierende Haltung einnehmen, wenn ihnen das im Team nicht selbst angeboten wird? Was also als Erstes betrachtet werden muss, ist die verabredete Kommunikationsstruktur im Team. Gibt es Möglichkeiten des Feedbacks, nutzen alle die kollegiale Beratung als Methode, um das eigene Handeln zu reflektieren, kann jede oder jeder Fehler machen, ohne alles allein auslöffeln zu müssen? Wie immer, wenn wir gute pädagogische Ansätze und Grundhaltungen implementieren möchten, braucht es Führungskompetenz. Die bekommt man leider nicht im Paket, die muss jeder sich mühevoll und selbstkritisch erarbeiten, es muss aber auch Platz für persönliche Geschichten sein.

Als ich vor 12,5 Jahren als Kitaleitung begann, war in mir eine Mischung aus Panik und Zuhören. Ich hatte schlechte Erfahrungen in meiner praktischen Ausbildung gemacht. Kita war mein rotes Tuch, aber nun war ich berufstätige Mutter, brauchte einen Job mit familienfreundlichen Arbeitszeiten.

So hörte ich 2 Wochen nur zu. Ich fand Ängste, Routine, Bauchpädagog*innen, unfassbar viel Praxiserfahrung und Menschen, die multiprofessionell zusammenarbeiteten. Aus meiner Sicht war das Fahrwasser zu tief, aus der Spur kommen zu schwer. Aber ich sah ein Team, welches so dicht an den Belangen der Kinder und Familien war, das es leicht schien, einzusteigen. Meine Aufgabe war schnell erkannt – schütze den Zusammenhalt und die Haltung zum Kind, schaffe mehr kulturelle Vielfalt im Team und nutze die Beobachtungen der Mitarbeitenden.

Wir haben gut 5 Jahre mit vielen Höhen und Tiefen an dem Miteinander gearbeitet, es sind auch nicht alle geblieben, aber wir haben es geschafft und dann war Platz für die Haltung zum Kind, für die große Frage was wollen wir mit den Kindern hier entwickeln und leben. Davor haben wir erst einmal das Team stark gemacht für den Prozess. Veränderungen dauern und brauchen eben auch Strukturen, sonst stirbt mit jedem Weggang eben auch eine Idee, eine Haltung und ein Transfer. Im Qualitätsmanagement nennt man diesen Prozess Wissenstransfer. Was bleibt, wenn einer geht, was muss geschützt und im Team transportiert werden.

Perspektivwechsel

Nach diesem Prozess kam die Machtfrage. Das Umdenken auf Ebene der Kinder ist schwer. Zu lange war es selbstverständlich für die Kinder zu planen und zu gestalten. An dieser Stelle ruckelt es in fast jedem Team. Und nun steigen wir ganz tief in die vorurteilsbewusste Erziehung ein, denn hier kann niemand mehr seine Sozialisation leugnen. Die Geister sind zu groß und zu geliebt.

Die eigene Erziehung der Eltern zu reflektieren und daraus Schlüsse ziehen, ist mal ganz spannend und dann auch wieder komisch. Offen bleiben, wissen, warum man so handelt, wie man handelt oder zumindest eine Idee haben. Ich sage oft zu meinen oder anderen Kindern: »Vertraue deinem Bauchgefühl!« Immer wenn die Frage nach den bösen Menschen kommt, den Situationen, die man nicht planen kann. Was soll ich sagen, Patentrezepte gibt es nicht. Die richtige Entscheidung basiert auf dem Bauchgefühl.

Beurteilst du die Situation kritisch oder nicht? Unsere Einschätzung ist begründet auf Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gesammelt haben. Die Stimme klingt komisch, der oder die sah anders aus oder ich konnte es schon am Gang erkennen. All das basiert auf unseren Erfahrungen – bewusst oder unbewusst gemacht – ermöglichen sie uns den Schutz und das eigenständige Eingreifen in Situationen. Häufig gestehen wir aber genau das den Kindern nicht zu. Dann werfen wir ihnen nicht regelkonformes Verhalten vor oder möchten Begründungen für dieses. Ich bin manchmal müde davon zu erklären, wie wichtig ein eigener Standpunkt ist und dass Kinder ein Recht auf eigene Emotionen haben. Natürlich passen die nicht immer zum Ablauf, meine häufig auch nicht.

Demokratische Strukturen

Es ist so leicht gesagt: Kinder sollen ihren Standpunkt vertreten und sich für ihre Belange einsetzen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es in den Alltag passt. Was wir also in Kitas brauchen, sind demokratische Strukturen, die unabhängig von Personen gelebt werden können. Kinder müssen in einer Gemeinschaft agieren, in der sie sich verbünden und ihre Interessen vertreten können ohne Angst vor Sanktionen. Und ich sage eben NICHT, die Pädagog*innen haben nichts mehr zu melden, aber sie müssen aufhören, sich schein zu beteiligen und ständig selbst die Strukturen nicht einzuhalten.

Inkonsequenz ist der größte Feind, der entsteht nicht immer nur aus Desinteresse und Boykott. Inkonsequenz entsteht auch durch fehlenden Austausch, wenig Kommunikation, zu wenig Personal und Überforderung, die auch wiederum viele Gründe hat. Also denkt nach. Was ist passiert, warum haltet ihr die Absprachen nicht ein? Es braucht Reflexion und das ist der Kern. Ich werde nur besser, wenn ich aus meinen Fehlern und meiner Entwicklung lerne.

Eigentlich komisch, dass wir daraus einen pädagogischen Ansatz machen, so selbstverständlich liegt es hier auf dem Tisch.

Wer bringt was mit?

Menschen in Kindertagesstätten haben aber auch unterschiedliche Voraussetzungen, mit denen sie in die Berufswelt starten und deshalb lohnt sich der Blick auf die Familien, die ihnen begegnen sind unterschiedlich, fremd, vertraut, versorgend, unterlassend, ein Gewinn, eine weitere Hürde, so viele Möglichkeiten.

Diese Unterschiedlichkeit herauszuarbeiten ist die Kunst. Ein Kind muss in einer Gemeinschaft der Gruppe von Kindern in der Kindertagesstätte um seine Wurzeln wissen, den eigenen kulturellen Hintergrund zur Stärkung des Selbstvertrauens nutzen dürfen und können. Hierbei müssen Kinder die Erfahrung machen, dass genau durch diese Anerkennung und Wertschätzung sie Zugehörigkeit erfahren. Besonders sein und eben doch ein Teil des Ganzen, dieses Wissen müssen Pädagog*innen in der Arbeit nutzen und Möglichkeiten zum Erkennen bieten.

Mein besonderer Moment dazu war auf einem Gartentag in der Kita. Alle Eltern waren da, um gemeinsam das Außengelände fit für den Winter fit zu machen. Wir brauchten Harken, Astscheren, Akkuschrauber und Kenntnisse in der Gartenpflege. Ich hatte das einer syrischen Mutter erklärt, sie wollte unbedingt teilnehmen, ihren Kindern die Erfahrung ermöglichen. Ich sprach vom Arbeitseinsatz und dem anschließenden Grillen zur Belohnung.

Am Samstag kam sie mit ihren Kindern zum Gartentag, setzte sich auf die Terrasse, machte Feuer und bereite köstliches Fladenbrot auf einem komischen Halbkreis zu. Ich war irritiert, fast schockiert. Feuer auf der Terrasse und wozu eigentlich Brot? Das hatte ich so nicht erklärt.

Auf meine Frage, was sie dort machte, schaute sie mich an und erklärte: Ich habe keine Gartensachen, ich weiß auch nicht, was ihr hier macht, aber ich bin so froh, dass meine Kinder hier so gern sind, da wollte ich Brot backen, wie meine Mutter es mir beigebracht hat. Alle Kinder liebten das Brot und andere Eltern interessierte die Zubereitungsart. Es entstanden Gespräche und der lang ersehnte Austausch passierte vor meinen irritierten Augen.

Sie hatte uns allen ein Geschenk gemacht – echtes Interesse an der Begegnung.

Noch heute bin ich dankbar für die Erfahrung und schäme mich für meinen kritischen Blick.

Verbindungen und Schubladen

Zugehörigkeit, ein echtes menschliches Bestreben, wenn man sich wohlfühlt. Allen anderen war ein Geschenk gemacht worden, sie hatten Begegnung mit Vielfalt, mit dem anders Machen und einer kulturellen Begegnung. Ein Ziel, unterschiedliche Wege. Alle führen zum Wohlfühlen und Ankommen in der Gemeinschaft. Essen ist ein elementares Instrument in der Annäherung. Essen schafft Verbindung und erzählt eine Geschichte über die Herkunft. Also schließen wir doch ab und an mal die Schubladen, die bei jeder Begegnung in unserem Kopf aufgehen. Ich sage nicht verbannen, denn sie helfen uns, auf uns selbst zu achten und lassen uns manchmal auch Situationen schneller und umfassender erkennen. Meistens aber führen sie dazu, dass wir nicht mehr richtig zuhören und vieles beim Anderen schon voraussetzen, das nicht da ist.

Ich mache mal ein Beispiel aus meinem privaten Leben. Eine meiner Töchter war tagsüber trocken, nun wollte sie auch nachts keine Windel mehr. Wir diskutierten, ich versuchte sie zu überreden, denn ich hatte schon 4 Tage jede Nacht gegen 2:30 Uhr das Bett abgezogen, das Kind umgezogen und mit zu mir ins Bett geholt. Ich war genervt und voller Willen, sie zur Windel nachts zu überreden. Sie hatte allerdings auch einen starken Willen und ich schaffte es nicht, die Windel durchzusetzen. Weitere 2,5 Wochen vergingen, in denen ich jede Nacht der gleichen Prozedur unterlag. Nach 3 Wochen war ich so genervt, dass ich so beiläufig beim Umziehen sagte: »Mensch, wenn du nachts Pipi musst, dann geh doch einfach mal aufs Klo!« Meine Tochter guckte mich mit großen Augen an und sagte: »Ach so!«

Von da an endete unsere nächtliche Prozedur, ich hatte einfach vergessen, sie auf das nächtliche Ritual vorzubereiten. Sie war nachts noch nie zur Toilette gegangen und es war für sie eben nicht total logisch, es wie am Tage zu machen. Häufig erzähle ich diese Geschichte, um aufzuzeigen, wie wichtig Kommunikation ist.

Methoden und Fragen

Kinder müssen angeregt und begleitet werden, sie spüren echtes Interesse und haben bei offenen Fragen viel zu erzählen. Wenn ich aber im Kitaalltag mehr für die Kinder regele und nicht mit ihnen den Tag gestalte, werde ich diese Offenheit beim Zuhören verlieren, ihren Entdeckersinn nicht mehr wahrnehmen. Ach, der Paul hört sowieso nie zu, die Maja hat eh nie was Gesundes zu essen mit und der Youssef kann sowieso nicht still sitzen…. Schublade, Schublade, Schublade.

Paul, was ist wichtiger als unser Gespräch, woran denkst du, was entdeckst du gerade?

Maja, was isst du eigentlich am liebsten und wollen wir mal zusammen kochen?

Youssef, kommst du in den Morgenkreis oder was musst du noch schnell erledigen? Weißt du eigentlich, was ich heute mit euch vorhabe? Wo kannst du gut sitzen?

Offenheit und echtes Interesse. Dafür lohnt es sich, in den Austausch zu gehen und das sind die Dinge, die übrigens jede pädagogische Fachkraft von den Kindern erwartet, die Frage bleibt, ob sie oder er es auch mitbringen. Und dann eben gleichermaßen Platz zu lassen.

Wenn es in Erzählkreisen nach der Sommerpause um die Urlaube geht, überall mit gleichem Interesse und gleicher Aufmerksamkeit zuzuhören. Ja, auf den ersten Blick erscheint der 2 Wochen all inklusive Urlaub von Marvin vielleicht besser, aber vielleicht hat Edda nach 2 Wochen bei den Großeltern mehr erlebt und reichere Erfahrungen mitgebracht …. Wer weiß!?!?

Rausfinden, auf Spurensuche gehen.

Fazit

Gehen Sie auf Spurensuche, dafür plädiert der Ansatz, sich mit der eigenen Biografie und den eigenen Erfahrungen zu beschäftigen. Wichtig ist es hierbei, bei sich selbst Stärken zu erkennen und diese hervorzuheben, aber auch Schwächen zu erkennen und an den Erfahrungen zu wachsen. Im Team heißt das füreinander sorgen, übernehmen und auch mitbekommen, wann jemand nicht so viel leisten kann, weil der Kopf gerade mit anderen Dingen voll ist. Hier gilt das Prinzip der Ausgewogenheit – einander im Team tragen, heißt eben mal hervorzutreten oder sich mal hinter den Anderen verstecken zu können. Sich gegenseitig helfen. Das sind doch tolle Lernerfahrungen für Erwachsene und Kinder, so fallen Diskriminierungen und Ausgrenzungen auch auf, bleiben nicht unbeobachtet und die Sache des Einzelnen. Ich bin manchmal fast selbst erschrocken bei der Erkenntnis, dass für Teams und Kitagruppen die gleichen Regeln gelten und das die Nachfrage meiner Oma: »Denk einfach nach, wie würdest du dich dabei fühlen?« mich häufig richtig gelenkt hat. Empathie kann man eben nur in der Gemeinschaft lernen und die muss so gestaltet sein, dass ich mich willkommen, gesehen und verstanden fühle.

Beate Rempe

Einrichtungsleitung der AWO Kita Stade und Fachberatung für die AWO Soziale Dienste Bezirk Hannover gGmbH

 

Beate Rempe

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