Bürgergeld, Aufwendungen für die Unterkunft und Karenzzeit
Recht & Verwaltung08 August, 2023

Bürgergeld-Gesetz: Karenzzeit im SGB XII – Aufwendungen für Unterkunft | Teil 1

Peter Scheider, Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen a.D., Mitherausgeber des „Schellhorn“ (SGB XII-Kommentar)

Mit der Neufassung des § 35 SGB XII durch Art. 5 Nr. 6 des Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes (Bürgergeld-Gesetz) vom 16.12.2022 (BGBl. I, S. 2328) wurde u.a. (ebenso wie in § 22 SGB II) eine Karenzzeit von einem Jahr eingeführt. Danach werden die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft von Leistungsberechtigten nach dem 3. sowie 4. Kapitel des SGB XII, auch wenn die Aufwendungen nach den Bestimmungen des § 35 SGB XII unangemessen hoch sind, für das erste Jahr des Leistungsbezugs in voller Höhe als Bedarf anerkannt. Im Einzelnen finden sich die neuen Regelungen in § 35 Abs. 1 Sätze 2 bis 6 sowie Abs. 2 SGB XII, eine Übergangsregelung enthält § 140 SGB XII. Außerdem hat die neue Regelung Auswirkungen auf den neuen § 35a SGB XII und den geänderten § 42a SGB XII.

Begründung für die Einführung einer Karenzzeit

Mit der Einführung der Karenzzeit wurden u.a. die Erfahrungen aus den Regelungen zum vereinfachten Verfahren für den Zugang zur sozialen Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie aufgegriffen und der Schutz von Unterkunft für eine erste Zeit im Leistungsbezug gestärkt. Die Änderung dient ebenso wie die inhaltsgleiche Regelung in § 22 Abs. 1 Sätze 2 bis 5 SGB II dem Schutz des Grundbedürfnisses Wohnen. Die Erfahrungen aus dem vereinfachten Zugang zu existenzsichernden Leistungen während der COVID-19-Pandemie haben gezeigt, dass die Sicherung des Lebensunterhalts bei Einräumung einer Karenzzeit einfacher und zielgerichteter möglich ist. Sie führt zudem zu höherer Akzeptanz des Sicherungssystems und sorgt für mehr Rechtssicherheit. Die Beurteilung der Angemessenheit der Unterkunftskosten ist in der Praxis mit nicht unerheblicher Rechtsunsicherheit behaftet und führt zu einer Vielzahl von Widerspruchs- und Klageverfahren, wenn die tatsächlichen Aufwendungen nicht vollständig anerkannt werden. Derartige Verfahren können zumindest für die Dauer der Karenzzeit vermieden werden (so auch die Begründung des Gesetzentwurfs zum Bürgergeldgesetz, BT-Drucks. 20/3873, S. 51).

Ausdrücklich heißt es in der Gesetzesbegründung, es sei auch Sinn und Zweck der Karenzzeit, den Menschen, die erstmals auf den Bezug von existenzsichernden Leistungen angewiesen sind, die Sorge zu nehmen, dass ab Leistungsbeginn die Wohnung als Lebensmittelpunkt unmittelbar gefährdet und die Wohnung bereits nach kurzer Zeit aufzugeben sei. Ohne die Karenzzeit müssten im Falle unangemessener Aufwendungen für die Unterkunft Bemühungen zur Kostensenkung bereits in den ersten sechs Monaten nach Leistungsbeginn erfolgen und nachgewiesen werden. Für den Personenkreis des 3. und 4. Kapitel des SGB XII stellten derartige Anforderungen eine besondere Belastung dar. Dieser Personenkreis solle deshalb, so die Begründung des Gesetzentwurfs weiter, nach Beginn des Leistungsbezugs ausreichend Zeit haben, sich auf die Veränderung der Lebenssituation einzustellen.

Einzelheiten zu den neuen Regelungen in § 35 Abs. 1 Sätze 2 bis 6

Grundsätzlich werden die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nur dann als Bedarf anerkannt, wenn sie angemessen sind (insoweit inhaltlich unverändert § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Ohne die coronabedingten Sonderregelungen in § 141 SGB XII (Fassung bis 2022) bzw. die Einführung der neuen Karenzzeiten käme eine Berücksichtigung von höheren als den angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft als leistungsrechtlich relevantem Bedarf nur nach einer Kostensenkungsaufforderung in Betracht, in der Regel längstens für sechs Monate. § 35 Abs. 2 SGB XII enthält ergänzende Verfahrensregelungen zu der neuen Karenzzeit sowie damit verbunden eine Informationspflicht des Sozialhilfeträgers (s. Teil 2 des Beitrags).

Anerkennung tatsächlicher Aufwendungen der Bedarfe für Unterkunft, nicht für die Heizung

Ausdrücklich heißt es in Abs. 1 Satz 2, dass eine Karenzzeit – nur – für die Anerkennung der »Bedarfe für Unterkunft« gilt. Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf zum Bürgergeld-Gesetz sollte die Karenzzeit für die Anerkennung der »Bedarfe für Unterkunft und Heizung« gelten. Das hätte zur Folge gehabt, dass während der Karenzzeit (ebenso wie während der von § 141 Abs. 3 SGB XII erfassten Zeit, hierzu Teil 2 des Beitrags) auch objektiv unangemessene Aufwendungen für die Heizung übernommen worden wären. Das Ziel der Karenzzeit, die bei Leistungsbeginn vorhandene Wohnung zu schützen, lässt sich jedoch auch ohne eine Einbeziehung der Aufwendungen für Heizung erreichen. Letztlich wurden deshalb in § 35 Abs. 1 SGB XII (ebenso wie in § 22 Abs. 1 SGB II) jeweils in den Sätzen 2 und 3 die Wörter »und Heizung« gestrichen (s. hierzu den ursprünglichen Gesetzentwurf zum Bürgergeldgesetz, BT-Drucks. 20/3873, S. 32, 111; die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drucks. 20/4360, S. 34 sowie den Vorschlag des Bundesrates zur Herausnahme der Kosten für die Heizung aus der Karenzzeit und die Antwort der Bundesregierung darauf, BT-Drucks. 20/4226, S. 3, 22). Die Aufwendungen für die Heizung sind somit während der Karenzzeit nicht privilegiert.

Auswirkungen der Karenzzeit (Abs. 1 Satz 3)

Während der Karenzzeit werden gemäß Abs. 1 Satz 3 Bedarfe für die Unterkunft abweichend von Satz 1 der Vorschrift nicht nur in angemessener Höhe, sondern in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt. Es handelt sich insoweit um eine gebundene Entscheidung, die nicht im Ermessen des Trägers der Sozialhilfe steht. Dieser ist allerdings nach Abs. 2 zu Beginn der Karenzzeit verpflichtet, die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu prüfen. Eine Prüfung der Gründe für die Höhe eigentlich unangemessener Kosten ist nicht zulässig.

Eine Ausnahme findet sich in Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2: Danach bleibt § 35a Abs. 2 Satz 2 SGB XII unberührt und es wird sichergestellt, dass Mehrkosten wegen Umzügen, die unter Ausnutzung der Regelungen zur Karenzzeit erfolgen, nicht anerkannt werden. Weitere Regelungen über die Karenzzeit bei einem Umzug finden sich in § 35a Abs. 2 Satz 4 SGB XII (s. Teil 2 des Beitrags).

Dauer und Beginn der Karenzzeit (Abs. 1 Satz 2)

Die Karenzzeiten kommen in Betracht für Bewilligungszeiträume, die frühestens am 01.01.2023 beginnen. Die Dauer beträgt nach § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ein Jahr ab Beginn des Monats, für den erstmals Leistungen nach dem SGB XII bezogen werden. In den Sätzen 4 bis 6 finden sich weitere Regelungen über die Folgen von Unterbrechungen (Satz 4) sowie früheren Leistungsbezügen nach dem SGB II oder dem SGB XII (Satz 5). Aus dem Gesamtzusammenhang der Vorschrift, insb. mit Satz 5, ergibt sich, dass mit »Leistungen nach dem SGB XII« nur solche nach dem 3. oder 4. Kapitel gemeint sein können, der Wortlaut ist jedoch nicht eindeutig. Die Formulierung »ab Beginn des Monats« deutet darauf hin, dass die Karenzzeit immer für volle Kalendermonate gilt.

Verlängerung der Karenzzeit (Abs. 1 Satz 4)

Mit Satz 4 wird bestimmt, dass Unterbrechungen des Leistungsbezugs in der Karenzzeit für mindestens einen Monat zu einer Verlängerung der Karenzzeit führen, und zwar um volle Monate ohne Leistungsbezug. Eine Unterbrechung des Leistungsbezugs i.S.d. Vorschrift setzt voraus, dass für die fragliche Zeit keine Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII erbracht werden. Ein voller Kalendermonat ohne Leistungsbezug ist nicht erforderlich, so dass eine Unterbrechung an einem beliebigen Tag des Monats beginnen kann und dann mindestens bis zu dem Tag des Folgemonats andauern muss, der durch seine Zahl dem Tage entspricht, in dem die Unterbrechung begonnen hat (z.B. vom 10.03. bis zum 09.04.; die Regelungen der §§ 187, 188 BGB sind insoweit entsprechend anzuwenden). Dabei sind mehrere Unterbrechungen denkbar.

Neue Karenzzeit nach Unterbrechung (Abs. 1 Satz 5)

Satz 5 regelt die Fälle, in denen seit dem Beginn einer ersten Karenzzeit nach Satz 2 insgesamt mindestens drei Jahre keine Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel oder dem SGB II bezogen worden sind. Erst dann kommt eine neue Karenzzeit in Betracht. Da nach dem Gesetzeswortlaut kein durchgehender oder ununterbrochener Leistungsbezug gefordert wird, ist im Einzelnen zu ermitteln, ob seit Beginn der ersten Karenzzeit, ggf. unter Berücksichtigung von Unterbrechungen, für insgesamt drei Jahre keine Leistungen bezogen wurden.

Besonderheiten bei vorherigem Leistungsbezug nach dem SGB II (Abs. 1 Satz 6)

Nach Satz 6 wird ein im SGB II bereits in Anspruch genommener Zeitraum der Karenzzeit bei einem Übergang vom SGB II in das SGB XII bei der Karenzzeit im SGB XII mindernd berücksichtigt. Dies betrifft insbesondere die Fälle, in denen während des Bezuges von Bürgergeld nach dem SGB II die Bedarfe für Unterkunft wegen der dortigen Regelung zur Karenzzeit in § 22 Abs. 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt worden sind und während der Karenzzeit nach dem SGB II ein Wechsel in die Zuständigkeit des SGB XII-Leistungsträgers erfolgt, z.B. wegen des Erreichens der Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII.

In Teil 2 des Beitrags werden Einzelheiten zu den Verfahrensregelungen und zur Informationspflicht (§ 35 Abs. 2 SGB XII) sowie die Sonderregelungen der §§ 35a und 42a SGB XII behandelt. Noch tiefergehende Informationen zur Karenzzeit u.a. finden Sie in der Online-Ausgabe des „Schellhorn“ (SGB XII-Kommentar).

Anmerkung der Redaktion:

  • Teil 2 des Beitrages „Bürgergeld-Gesetz: „Karenzzeit im SGB XII“ – Aufwendungen für Unterkunft auch bei Unangemessenheit“ von Herrn Scheider finden Sie hier.
  • Alle weiteren Beiträge rund um das Bürgergeld-Gesetz und seine Auswirkungen finden Sie hier:
    Fokus Hub Bürgergeld
  • Den „Schellhorn“ SGB XII-Kommentar (jetzt auch mit Online-Aktualisierungen) finden Sie hier:
    SGB XII-Kommentar
Der „Schellhorn“, SGB XII Kommentar – Sozialhilfe
Das Standardwerk zum Sozialhilferecht, mit Kommentierung der Eingliederungshilfe (Teil 2 des SGB IX)
NEU: Regelmäßige Aktualisierung zwischen den Printauflagen im Onlinewerk

Bereits erfolgte Onlineaktualisierungen u.a. zum Bürgergeld-Gesetz und Wohngeld-Plus-Gesetz:
  • Neufassung der §§ 11, 12 SGB XII;
  • Leistungseinschränkung, Aufrechnung, § 26 SGB XII;
  • Härtefallmehrbedarf, § 30 Abs. 10 SGB XII;
  • Karenzzeit, §§ 35, 35a SGB XII;
  • Einkommen/Freibeträge, § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII;
  • Geschütztes Vermögen, §§ 90 Abs. 2 Nr. 10 SGB XII, VO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII.
  • Übergangsregelung aus Anlass des Wohngeld-Plus-Gesetzes, § 131 SGB XII u.v.m.
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Autor

Peter Scheider

Peter Scheider war bis zu seiner Pensionierung langjähriger Vorsitzender des für Angelegenheiten nach dem SGB XII und dem AsylbLG zuständigen Senats beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen.
Er ist Mitherausgeber des sog. „Schellhorn“ (SGB XII-Kommentar) und bearbeitet dort u.a. die Vorschriften über die Bedarfe für Unterkunft und Heizung.


Bildnachweis: Jadon B/peopleimages.com/stock.adobe.com
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