Die wichtigsten Entscheidungen aus 2022 in Insolvenzverfahren natürlicher Personen – Teil 2
10. Pfändbarkeit der Energiepreispauschale
Beispiel:
Amtlicher Leitsatz:Die Energiepreispauschale gem. §§ 112 ff. EStG ist pfändbar und unterfällt insbesondere dem Insolvenzbeschlag.
AG Norderstedt, Beschl. v. 15.09.2022 – 66 IN 90/19 = InsbürO 2022, 441 f. = ZInsO 2022, 2212 ff.
Anmerkung:
Die Pfändbarkeit der Energiepreispauschale ist in der Praxis umstritten und wird unterschiedlich eingeschätzt (für eine Pfändbarkeit im eröffneten Insolvenzverfahren, Ahrens, NJW Spezial 2022, 341; dagegen Grote, InsbürO 2022, 337 ff.; Kohte, VuR 2022, 361 Editorial). Das AG Norderstedt hält die Zweckbindung für nicht konkret genug.Dem AG Norderstedt ist jedenfalls dahingehend zuzustimmen, dass die Energiepreispauschale in der Restschuldbefreiungsphase nicht von der Abtretung an den Treuhänder erfasst ist.
11. Unpfändbarkeit eines Pkw bei einer vierköpfigen Familie
Beispiel:
Leitsatz des Verfassers:Ein Pkw einer vierköpfigen Familie ist unpfändbar, wenn beide Elternteile in Vollzeit arbeiten und im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die Organisation der Familie nicht anders bewältigt werden kann.
LG Baden-Baden, Beschl. v. 19.09.2021 – 3 T 28/21 = DGVZ 2021, 266 f.
Anmerkung:
In dem entschiedenen Fall konnten die Arbeitsstellen der Schuldner isoliert betrachtet jeweils mit anderen Verkehrsmitteln erreicht werden. Allerdings hat das Gericht aufgrund der Tatsache, dass die Familie im ländlichen Raum lebte und zumindest eine Tochter im Grundschulalter besonders betreuungsbedürftig war, aus dem Gesamtumständen eine Unpfändbarkeit abgeleitet.
12. Keine Prüfung der Bescheinigung nach § 305 InsO durch das Insolvenzgericht
Beispiel:
Amtlicher Leitsatz:Dem Insolvenzgericht steht keine inhaltliche Prüfungsbefugnis der von dem Schuldner vorgelegten Bescheinigung über das Scheitern des außergerichtlichen Einigungsversuchs zu.
BGH, Beschl. v. 24.02.2022 – IX ZB 5/21 = InsbürO 2022, 243 f.
Anmerkung:
Diese Prüfungskompetenz des Gerichts bezieht sich sowohl auf die vollständige Vorlage der amtlichen Formulare als auch auf deren vollständige Ausfüllung. Es widerspräche aber dem Zweck des Formularzwangs, dem Insolvenzgericht eine zügige Prüfung zu ermöglichen und dem Schuldner seinerseits eine vollständige Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu erleichtern, wenn die Insolvenzgerichte über die Formulare hinausgehende Anforderungen stellen dürften. Eine inhaltliche Prüfungskompetenz durch das Gericht würde die gesetzgeberische Entscheidung unterlaufen, geeigneten Stellen und Personen die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung der bescheinigten Umstände zu übertragen und die „Geeignetheit“ dieser Stellen – zum Beispiel durch Ausführungsgesetze der Länder – festzulegen.
13. Aussetzung der Verstrickungswirkung in der Wohlverhaltensperiode
Beispiel:
Leitsatz des Gerichts:Die Verstrickung einer gepfändeten Forderung kann während des Restschuldbefreiungsverfahrens dadurch beseitigt werden, dass das Vollstreckungsgericht die Vollziehung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses bis zur Entscheidung über die Restschuldbefreiung aussetzt, ohne die Pfändung insgesamt aufzuheben.
BGH, Beschl. v. 02.12.2021 – IX ZB 10/21 = InsbürO 2022, 206 ff.
Anmerkung:
Der 9. Zivilsenat des BGH ergänzt mit diesem Beschluss seine Entscheidung v. 19.11.2020 (AZ: IX ZB 14/20), mit der er bereits gleichlautend für das eröffnete Verfahren entschieden hatte. Antragsberechtigt ist dann der Schuldner. Zuständig ist das Vollstreckungsgericht.
14. Kein Anspruch auf Löschung des negativen SCHUFA-Eintrages nach Restschuldbefreiung
Beispiel:
Leitsatz des Verfassers:Der Schuldner hat keinen Anspruch auf Löschung negativer SCHUFA-Einträge vor dem Ablauf von drei Jahren nach dem Erlangen der Restschuldbefreiung.
OLG Stuttgart, Urt. v. 10.08.2022 – 9 U 24/22 = ZIP 2022, 2024 ff.
(gegen OLG Schleswig, Urt. v. 03.06.2022 – 17 U 5/22 = ZinsO 2022, 1411 ff.)
Anmerkung:
Anders als das OLG Schleswig sieht das OLG Stuttgart kein überwiegendes Interesse des Schuldners an der Löschung der Daten über die erlangte Restschuldbefreiung und die mit der Restschuldbefreiung nicht mehr durchsetzbaren Forderungen seiner Insolvenzgläubiger. Man darf in dieser Angelegenheit auf die Entscheidung des EUGH gespannt sein, das vom VG Wiesbaden zur Vorabentscheidung angerufen wurde (VG Wiesbaden, Beschl. v. 31.08.2021 – 6 K 226/21).
15. Falsche Angaben in einem Vergleichsangebot
Beispiel:
Amtlicher Leitsatz:Unrichtige schriftliche Angaben des Schuldners über seine wirtschaftlichen Verhältnisse in den letzten drei Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens können auch dann zu einer Versagung der Restschuldbefreiung führen, wenn sie im Rahmen eines Vergleichsangebots erfolgen.
BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – IX ZB 1/21 = InsbürO 2022, 79 f.
Anmerkung:
Der Schuldner hatte in einem Vergleichsvorschlag falsche Angaben über die Vermögensverhältnisse an einem Grundstück gemacht. Der BGH erklärt hier, dass der Schuldner im Rahmen des § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO auch dann keine falschen Angaben gegenüber einem Gläubiger machen darf, wenn er die Angaben freiwillig in einem Vergleichsvorschlag unterbreitet.
16. Versagung wegen Nichtangabe einer Forderung
Beispiel:
Leitsatz des Verfassers:Die Restschuldbefreiung ist nach § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu versagen, wenn der Schuldner eine ihm bekannte hohe Forderung einer Bank nicht angibt.
LG Düsseldorf, Beschl. v. 02.12.2021 – 25 T 493/21 = InsbürO 2022, 285 f.
Anmerkung:
Die Bank hatte dem Schuldner 2007 vor der Verwertung seines Hauses eine Forderungshöhe von ca. 478.000,00 € mitgeteilt. Im Jahr 2008 wurde ihm mitgeteilt, dass die Verwertung des Eigentums einen Betrag in Höhe von ca. 46.000,00 € ergeben habe. Auch wenn der Schuldner danach viele Jahre nichts von der Gläubigerin gehört hatte, konnte er nach Ansicht des Gerichts nicht davon ausgehen, dass die Forderung nicht mehr bestand.
17. Beiordnung eines Rechtsanwalts beim Widerspruch gegen ausgenommene Forderungen
Beispiel:
Leitsatz des Verfassers: Eine Anwaltsbeiordnung kommt in Betracht, wenn der Schuldner nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen – gemessen an der konkret angemeldeten Forderung aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung – nicht in der Lage ist, ohne anwaltliche Hilfe eine selbstverantwortliche Entscheidung über die Zweckmäßigkeit der Erhebung eines Widerspruchs zu treffen.
LG Berlin, Beschl. v. 19.01.2022 – 84 T 9/22 = NZI 2022, 277 f.
Anmerkung:
Die Einschätzung der Frage, ob es aussichtsreich für den Schuldner ist, Widerspruch gegen die Anmeldung einer Forderung aus unerlaubter Handlung einzulegen, ist juristisch höchst kompliziert. Er hat daher einen Anspruch darauf, dass ihm im Wege der Kostenstundung ein Rechtsanwalt zur Hilfestellung beigeordnet wird, da er regelmäßig nicht in der Lage sein wird, ohne anwaltliche Hilfe eine selbstverantwortliche Entscheidung über die Zweckmäßigkeit der Erhebung eines Widerspruchs zu treffen (so schon BGH, Beschl. v. 18.09.2003 – IX ZB 44/03, NZI 2004, 39)
18. Massezugehörigkeit des Anspruchs auf ESt-Erstattung
Beispiel:
Amtlicher Leitsatz:
Wird dem Schuldner im laufenden Insolvenzverfahren die Restschuldbefreiung erteilt, gehört der Anspruch auf Erstattung von Einkommensteuerzahlungen zur Insolvenzmasse und nicht zum insolvenzfreien Neuerwerb des Schuldners, wenn der die Erstattungsforderung begründende Sachverhalt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder während des Verfahrens vor Ablauf der Abtretungsfrist verwirklicht worden ist.
BGH, Urt. v. 13.01.2022 – IX ZR 64/21 = InsbürO 2022, 205 f.
Anmerkung:
Steuererstattungsansprüche, die in Veranlagungszeiträumen vor der Eröffnung oder während des Insolvenzverfahrens entstanden sind, gehören auch dann zur Insolvenzmasse, wenn die Ansprüche erst nach der mittlerweile erteilten Restschuldbefreiung vom Schuldner geltend gemacht werden. Im entschiedenen Fall lag ein asymmetrisches Verfahren vor, es gab also keine Wohlverhaltensperiode.
Steuererstattungsansprüche, die erst nach dem Abschluss eines eröffneten Verfahrens in der Wohlverhaltensperiode entstehen, gehören nicht zur Insolvenzmasse. Der BGH bekräftigt, dass Steuererstattungsansprüche bei der Lohnsteuerzahlung bereits im Monat der Abführung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber entstehen. Die Einführung des § 300a InsO habe an dieser Rechtslage nichts geändert, sondern nur versucht, diese klarzustellen.
Anmerkung:
Dieser Artikel ist ursprünglich in der InsbürO - Zeitschrift für die Insolvenzpraxis, 2023, Ausgabe 1, Seiten 11 bis 14 erschienen.
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