Rechtsprechungsübersicht-erstes-Quartal-2022
Recht & Verwaltung23 Dezember, 2022

Rechtsprechungsübersicht: Zivil-, Arbeits- und Strafrecht für das 3. Quartal 2022

10 aktuelle Urteile für die anwaltliche Praxis

Auch Richter machen Urlaub. Deshalb gibt es in den drei Sommermonaten eines Jahres in der Regel weniger Aufmerksamkeit erregende Urteile und Beschlüsse, als zu den übrigen Jahreszeiten. Wir haben trotzdem wieder die Urteile für Sie zusammengestellt, die unserer Meinung zu den zehn wichtigsten des dritten Quartals gehören und unmittelbare Auswirkungen auf die anwaltliche Praxis haben. In die Top-Ten geschafft haben es diesmal das BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung, eine Entscheidung, die aufzeigt, warum auch Sie als Anwalt im Zweifel erhaltene Corona-Soforthilfe nicht zurückzahlen müssen – und der Fall eines Cannabis rauchenden Berufskraftfahrers.

Mit diesem Überblick bringen Sie sich in nur 15 Minuten auf den neuesten Stand im Zivil-, Straf- und Arbeitsrecht.

Von Michael G. Peters, Rechtsanwalt

Urteil Nr. 1: Arbeitgeber müssen ab sofort die Arbeitszeit erfassen

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) schafft Fakten: In allen Betrieben in Deutschland müssen ab sofort die Arbeitszeiten aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfasst werden. Ohne Wenn und Aber. Wie das zu geschehen hat, war lange unklar. Jetzt liegt auch die schriftliche Urteilsbegründung des BAG vor.

Sachverhalt

Ein Betriebsrat verhandelte mit dem Arbeitgeber über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Erst war der Arbeitgeber für eine elektronische Zeiterfassung, dann überlegte er es sich anders und brach die Gespräche ab. Es folgte die Klage des Betriebsrats, der die Auffassung vertrat, bei der Einführung jedes Zeiterfassungssystems ein generelles Mitbestimmungs- und damit ein Initiativrecht zu haben.


Entscheidung

Das höchste deutsche Arbeitsgericht sah das anders. Dem Betriebsrat steht bei der Einführung eines systematischen Zeiterfassungssystems kein Initiativrecht zu. Denn das Arbeitszeitgesetz schreibt bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vor – und die gilt für alle Arbeitgeber sowieso (BAG, Beschluss vom 13.09.2022, 1 ABR 22/21).

Denn in der gesetzlichen Regelung des § 16 ArbZG heißt es:

„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gemäß § 7 Abs. 7 eingewilligt haben. Die Nachweise sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren.“

Aufgrund dieser Vorschrift sind Arbeitgeber in Deutschland also schon lange zur Arbeitszeiterfassung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtet.


Praktische Bedeutung

Der Beschluss wird immense Folgen für die in vielen Betrieben geltende Vertrauensarbeitszeit, aber auch für mobile Arbeit und die Beschäftigung im Home-Office haben. Das BAG setzt mit dem Beschluss den Gesetzgeber unter Druck, eine eindeutige gesetzliche Regelung zu schaffen. Das Bundesarbeitsministerium hat infolge des BAG-Beschlusses eine solche auch schon angekündigt.

Das ist auch nötig, denn es bliebt die Frage, wie und ab wann Arbeitgeber in Deutschland den neuen BAG-Beschluss in die Praxis umzusetzen haben. Dazu gibt jetzt die ausführliche Begründung des Beschlusses näheren Aufschluss, indem vier wichtige Eckpunkte genannt werden:

1. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt ab sofort. Das heißt: Es gibt keine Übergangsfrist, die den Arbeitgebern Zeit für die Umsetzung in die Praxis gibt.

2. Der Arbeitgeber muss die Arbeitszeit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb auch tatsächlich erfassen. Es genügt also nicht, ein technisches Arbeitszeiterfassungssystem – wie zum Beispiel eine Stechuhr – bereitzustellen.

3. Die Arbeitszeit muss nicht elektronisch erfasst werden. Es genügt bereits, wenn die einzelnen Mitarbeiter im Betrieb die eigene Arbeitszeit schriftlich dokumentieren.

4. Der Arbeitgeber darf seine gesetzliche Pflicht, die individuelle Arbeitszeit zu erfassen, auf die im Betrieb beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übertragen.

Deshalb hat es dieses Urteil in die Top-Ten geschafft 

Der BAG-Beschluss und seine ausführliche Begründung setzen hunderttausende Arbeitgeber in Deutschland unter Druck, weil die Folgen unverzüglich in die Praxis umgesetzt werden müssen – auch wenn wohl vorläufig noch nicht mit Bußgeldern zu rechnen ist. Die neue gesetzliche Regelung dazu lässt noch auf sich warten. Anwaltlich ist Arbeitgebern daher zu empfehlen, die Erfassung der individuellen Arbeitszeit bis auf weiteres auf jeden einzelnen Arbeitsnehmer des Betriebs zu übertragen oder mit dem Betriebsrat – soweit vorhanden – die entsprechende Pflicht durch Abschluss einer Betriebsvereinbarung an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu delegieren. 


Urteil Nr. 2: Bis zu 15.000 € – Keine Rückforderung von Corona-Soforthilfen!

9.000 €, 15.000 € oder 25.000 €: So viel Soforthilfe konnten bei Ausbruch der Corona-Pandemie kleine und mittlere Unternehmen sowie Freiberufler und Solo-Selbständige je nach Beschäftigtenzahl in Nordrhein-Westfalen beantragen. In vielen Fällen fordert das Land NRW die gewährte Soforthilfe jetzt – zumindest anteilsmäßig – zurück. Dabei müssen viele Empfänger – darunter auch zahlreiche Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte – das erhaltene Geld offenbar gar nicht zurückzahlen.


Sachverhalt

3.092 € und 7.000 €. So hoch waren die Corona-Soforthilfen, die einem Veranstaltungstechniker und einer Rechtsanwaltssozietät ausgezahlt wurden. Beide hatten die staatliche Unterstützung mit Hilfe eines im Internet verfügbaren Antragsformulars beantragt. Anschließend bewilligte die jeweils zuständige Bezirksregierung die Auszahlung. In der zweiten Jahreshälfte 2020 forderte das Land NRW auf der Grundlage einer erst Ende Mai veröffentlichten Richtlinie zur Corona-Soforthilfe alle, an die ausgezahlt wurde, im Rahmen eines Rückmeldeverfahrens auf, ihre Einnahmen und Ausgaben für die Dauer des Bewilligungszeitraums durch Ausfüllen eines Online-Formulars anzugeben. Mit Hilfe dieser Zahlen berechneten die Bezirksregierungen den individuellen „Liquiditätsengpass“ des jeweiligen Empfängers der Soforthilfe, in dem sie die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben berechneten. Nur in Höhe des so ermittelten Liquiditätsengpasses sollten die Antragstellenden die Soforthilfe behalten dürfen. Die darüber hinaus ausgezahlten Beträge verlangte das Land mit Hilfe so genannter Schlussbescheide wieder zurück.


Entscheidung

Die Schlussbescheide der jeweiligen Bezirksregierungen in NRW sind rechtswidrig, weil die Bewilligungen, entgegen der Auffassung des Landes, nicht unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit gestanden hätten. Nach Ansicht des Gerichts haben weder

die Bewilligungsbescheide selbst, noch
das Antragsformular oder
der im Internet veröffentlichte Fragenkatalog (FAQ)

einen solchen Vorbehalt erkennen lassen.

Das Land kann sich auch nicht auf seine Ende Mai erlassenen Richtlinie zur Corona-Soforthilfe berufen, weil diese erst deutlich nach deren Bewilligung und Auszahlung veröffentlicht wurde. 

Bei der Endrechnung durfte das Land auch nicht allein auf einen Liquiditätsengpass abstellen, weil die Corona-Soforthilfe laut den Bewilligungsbescheiden auch zum Ausgleich von Umsatzeinbußen eingesetzt werden durften (VG Gelsenkirchen, Urteile vom 23.09.2022, 19 K 297/22 und 19 K 317/22).

Deshalb hat es dieses Urteil in die Top-Ten geschafft 

Allein beim Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen sind noch etwa 400 Klagen gegen die Rückforderung von Corona-Soforthilfen anhängig. Die beiden entschiedenen Fälle sind repräsentativ für diese Verfahren, mit denen sich auch viele Anwälte gegen die Rückzahlung von erhaltener Corona-Soforthilfe wehren.

Urteil Nr. 3: Negative Bewertungen bei eBay sind weitgehend zulässig

Daumen hoch! Daumen runter! Im Internet sind Bewertungen von Leistungen und Vertragspartnern wichtig, um zum Beispiel Kaufentscheidungen zu treffen. Doch für Verkäufer und andere Anbieter führt schlechte Kritik schnell zu schlechten Geschäften. Wie weit eine negative Bewertung bei eBay gehen darf, hat der Bundesgerichtshof entschieden.

Sachverhalt

19,26 € - inklusive 4,90 € Versandkosten. Für diesem Preis verkaufte ein Anbieter über eBay vier Gelenkbolzenschellen. An der Ware hatte der Verkäufer nach Lieferung nichts auszusetzen. An den Kosten für den Versand schon. „Ware gut, Versandkosten Wucher!!“ schrieb er deshalb ins Bewertungsprofil des Verkäufers. Zu viel Kritik für den Anbieter. Er verlangte unter anderem die Entfernung der Bewertung aus seinem Profil.

Entscheidung

Die Bewertung bleibt, wo sie ist. Ein Blick in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) von eBay zeigt, warum. Dort steht in § 8 Abs. 2:

„Nutzer sind verpflichtet, in den abgegebenen Bewertungen ausschließlich wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Die von Nutzern abgegebenen Bewertungen müssen sachlich gehalten sein und dürfen keine Schmähkritik enthalten.“

Diese AGB-Klausel – an der rechtlich nach Ansicht des BGH nichts auszusetzen ist – legt die Grenze für Kritik fest. Und die heißt: Schmähkritik! Denn überzogene, ungerechte oder sogar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung des Betroffenen im Vordergrund steht, der jenseits polemischer und überspitzter Kritik herabgesetzt und quasi an den Pranger gestellt werden soll. 

Bei der Bewertung „Versandkosten Wucher!!“ steht eine Diffamierung des Verkäufers jedenfalls nicht im Vordergrund. Denn der Käufer setzt sich – wenn auch in scharfer und möglicherweise überzogener Form – nur in einem Teilbereich mit der gewerblichen Leistung kritisch auseinander: Mit der Höhe der Versandkosten. Das ist nicht mehr als ein Werturteil, das auch zulässig ist, wenn es nicht begründet wird (BGH, Urteil vom 28.09.2022, VIII ZR 319/20).

Deshalb hat es dieses Urteil in die Top-Ten geschafft

Kundenbewertungen im Internet sind entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens. Eine Studie des Marktforschungsunternehmens Splendid Medien AG hat ergeben, dass neun von zehn Verbrauchern sich vor ihrer Kaufentscheidung zunächst über verschiedene Bewertungsportale informieren.
Für die Praxis heißt das: Streitigkeiten über Kritiken im Internet sind zunehmend an der Tagesordnung – und ein Blick in die AGB des Internetportals hilft – wie hier – die Erfolgsaussichten einzuschätzen.

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Urteil Nr. 4: BVerG bestätigt, dass mehrstöckige Anwaltsgesellschaften ab sofort zulässig sind

Neue Zeiten verlangen von Rechtsanwälten neue Schritte. Zum Beispiel bei der gesellschaftsrechtlichen Gestaltung von Anwaltskanzleien. Doch oft stehen immer noch berufsständische Regeln dagegen. Drei Gesellschafter einer Rechtsanwalts-GmbH erlitten nun die nächste Schlappe – vor dem höchsten deutschen Gericht. Doch die Verfassungsrichter gaben noch einen entscheidenden Hinweis auf die aktuelle Rechtslage.


Sachverhalt

Die drei Gesellschafter einer GmbH von Rechtsanwälten wollten alle Anteile an einer PartnerschaftsgesellschaftmbH (PartmbH) übernehmen und damit eine doppelstöckige Anwaltsgesellschaft gründen. Die sind nach der großen BRAO-Reform zulässig. Trotzdem entzog die Rechtsanwaltskammer der GmbH die Zulassung, weil eine PartmBH als einzige Gesellschafterin nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen über mögliche Gesellschafter einer Rechtsanwaltskanzlei zu vereinbaren sei (§ 59e Abs. 1 Satz 1 und 2 BRAO a. F.). Die GmbH klagte und erhob nach zwei Niederlagen vor Gericht am Ende sogar eine Verfassungsbeschwerde, die sich allerdings noch auf die Rechtslage vor Inkrafttreten der ab dem 01.08.2022 geltenden „großen BRAO-Reform“ bezieht.


Entscheidung

Ohne Erfolg. Die Verfassungsrichter schauten sich die alte Regelung in der BRAO noch einmal genau an und entschieden: Der Grundsatz, dass nur natürliche Personen – und damit eben keine GmbH – als Gesellschafter einer Rechtsanwaltskanzlei zulässig sind (§ 59e Abs. 1 Satz a. F.) ist nicht verfassungswidrig und verletzt die Gesellschafter der GmbH daher nicht in ihren Rechten.


Deshalb hat es dieses Urteil in die Top-Ten geschafft

Die Richter am BVerfG konstatierten aber noch einmal ausdrücklich, dass sich durch die „große BRAO-Reform“ die Rechtslage verändert habe. Ab sofort seien zugelassene Berufsausübungsgesellschaften an anderen Berufsausübungsgesellschaften zulässig (§ 59i Absatz 1 Satz 1 BRAO). Das höchste deutsche Gericht stellt damit klar: Nach der neuen Rechtslage sind mehrstöckige Anwaltsgesellschaften jetzt gestattet (BVerfG, Beschluss vom 04.08.2022, 1 BvR 1072/17).


Urteil Nr. 5: Corona-Prämien des Arbeitgebers sind nicht pfändbar

Gerade in der Gastronomie hatten es die Beschäftigten in der Corona-Pandemie schwer. Deshalb zahlten etliche Betriebe ihren Arbeitnehmern eine steuerfreie Corona-Prämie. Das Problem: Bei einer Privat-Insolvenz des Beschäftigten stellte sich die Frage, ob die Sonderzahlung zum pfändbaren Einkommen gehört.


Sachverhalt

Der Betreiber einer Gaststätte zahlte einer Küchenhilfe, die aber auch als Thekenkraft eingesetzt wurde, neben dem monatlichen Lohn eine Corona-Prämie in Höhe von 400 €. Weil über das Vermögen der Arbeitnehmerin das gesetzliche Insolvenzverfahren eröffnet war, pfändete der Insolvenzverwalter unter Berücksichtigung des Pfändungsfreibetrags in dem betreffenden Monat auch einen Teil der Sonderzahlung. 


Entscheidung

Die anteilige Pfändung der Corona-Prämie ist unzulässig. Die Sonderzahlung unterliegt wegen der tatsächlich gegebenen Erschwernis bei der Arbeitsleistung der Beschäftigten während der Pandemie nicht dem pfändbaren Einkommen (§ 850a Nr. 3 ZPO). Jedenfalls so lange die Prämie – wie hier – nicht den Rahmen des Üblichen überschreitet (BAG, Urteil vom 25.08.2022, 8 AZR 14/22).


Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

In der Corona-Pandemie wurden genau solche Sonderzahlungen – quasi als „Erschwerniszulage“ – an Beschäftigte gezahlt. Für viele Insolvenzanwälte stellte sich dabei die Frage nach der Pfändbarkeit der steuerfreien Sonderzahlung. Vor allem vor dem Hintergrund, dass anders als im Pflegebereich, wo der Gesetzgeber festgelegt hat, dass die Corona-Prämie unpfändbar ist (§ 150a Abs. 8 Satz 4 SGB XI), eine solche Regelung für andere Arbeitnehmer nicht existiert. Diese Frage hat das OLG Dresden jetzt entschieden. 


Urteil Nr. 6: Wer sein abgeschlepptes Fahrzeug herausverlangt, muss keine weiteren Standgebühren mehr zahlen

Verkehrssünden haben oft teure Folgen. Das gilt vor allem fürs Falschparken. Kommt der Abschleppdienst, wird’s kostspielig. Zu den Transportkosten kommen noch Standgebühren dazu, wenn das Fahrzeug nicht unverzüglich abgeholt wird. Doch es gibt eine Grenze für das Parken auf dem Hof des Abschleppdienstes.


Sachverhalt

270 € kostete einen Fahrzeughalter, der falsch geparkt hatte, allein das Abschleppen seines Autos. Hinzu kamen noch 15 € an Standgebühren für jeden Tag, den das Fahrzeug nicht abgeholt wurde. Vier Tage nach dem Abstellen des Fahrzeugs auf dem Betriebsgelände des Abschleppunternehmens verlangte der Halter sein Auto heraus, doch der Abschleppdienst weigerte sich und wollte erst die Abschleppkosten und die Standgebühren bezahlt haben. 329 Tage später, als es zur Gerichtsverhandlung über die Herausgabe des Fahrzeugs kam, stand das Auto immer noch auf dem Betriebsgelände des Abschleppdienstes. So summierten sich die Standgebühren auf fast 5.000 €. Das Unternehmen beharrte auf die vollständige Zahlung.


Entscheidung

Die Abschleppfirma muss das Fahrzeug herausgeben und auf den größten Teil der Standgebühren verzichten. Wer falsch parkt, setzt die Ursache für das Abschleppen und muss den Dienst bezahlen – ebenso wie die Standgebühren. Allerdings nur, bis der Fahrzeughalter der Abschleppfirma unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er sein Fahrzeug zurückhaben will. Ab diesem Zeitpunkt sei es zwar zulässig, dass das Abschleppunternehmen die Herausgabe des Fahrzeugs verweigere, bis der Halter die Gebühren fürs Abschleppen bezahlt habe. Auf Standgebühren muss der Abschleppdienst dann aber verzichten (OLG Dresden, Urteil vom 15.09.2022, 8 U 328/22).


Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

Fast 4,2 Millionen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr hat das Kraftfahrtbundesamt für das Jahr 2020 erfasst. In vielen Fällen ist anwaltlicher Rat gefragt. Das gilt vor allem, wenn es darum geht, die Folgen – und damit die Kosten – der Tat so gering wie möglich zu halten.


Urteil Nr. 7: Wen die Beweislast beim gutgläubigen Kfz-Kauf tatsächlich trifft

Tausende Autos werden jeden Tag in Deutschland verkauft. In den meisten Fällen läuft beim Verkauf alles glatt und die Probleme treten erst später auf. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass der Verkäufer nicht der Eigentümer des Fahrzeugs ist. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach einem gutgläubigen Erwerb durch den Käufer. Der Bundesgerichtshof hat jetzt dazu Stellung bezogen, wen bei Gutgläubigkeit beim Fahrzeugkauf die Beweislast trifft.


Sachverhalt

Ein Autohändler aus Italien erwarb über einen Mittelsmann für 30.800 € ein Fahrzeug von einem Autohaus in Deutschland. Der Vermittler holte das Fahrzeug bei dem deutschen Autohaus ab und brachte es nach Italien. Als der italienische Käufer bei dem deutschen Händler ein weiteres Fahrzeug erwarb, kam die böse Überraschung: Das Autohaus war geschlossen. Gegen den Geschäftsführer wurde in mehr als 100 Betrugsfällen ermittelt. Doch damit nicht genug: Kurz darauf stellte sich heraus, dass das Fahrzeug, dass der Käufer zuerst erworben und dann nach Italien verbracht hatte, nicht dem Autohaus gehörte, sondern einer Leasinggesellschaft. Trotzdem klagte der Käufer auf Herausgabe der Zulassungsbescheinigung II und berief sich auf gutgläubigen Erwerb.


Entscheidung

Die Leasinggesellschaft muss die Zulassungsbescheinigung II (den früheren Kraftfahrzeugbrief) an den Käufer herausgeben, denn dieser hat das Fahrzeug gutgläubig erworben. Das Gegenteil – also die fehlende Gutgläubigkeit – muss der beweisen, der das Eigentum zu verlieren droht. In diesem Fall also die Leasinggesellschaft.

Der BGH hat zur Beweislast beim gutgläubigen Erwerb festgestellt:
„Der Gesetzgeber hat die fehlende Gutgläubigkeit im Verkehrsinteresse bewusst als Ausschließungsgrund ausgestaltet. Derjenige, der sich auf den gutgläubigen Erwerb beruft, muss die Erwerbsvoraussetzungen (§ 929 BGB) beweisen, nicht aber seine Gutgläubigkeit.

Diese Beweislastverteilung gilt auch, wenn die fehlende Gutgläubigkeit des Erwerbers – wie hier – darauf gestützt wird, die Zulassungsbescheinigung Teil II habe bei dem Erwerb des Fahrzeugs nicht vorgelegen. Zwar gehört es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig zu den Mindesterfordernissen für einen gutgläubigen Erwerb eines gebrauchten Kraftfahrzeugs, dass sich der Erwerber die Zulassungsbescheinigung Teil II vorlegen lässt, um die Berechtigung des Veräußerers zu prüfen. Wird dem Erwerber eine gefälschte Bescheinigung vorgelegt, treffen ihn, sofern er die Fälschung nicht erkennen musste und für ihn auch keine anderen Verdachtsmomente vorlagen, keine weiteren Nachforschungspflichten. Diese Rechtsprechung ist aber nicht so zu verstehen, dass die Vorlage der Zulassungsbescheinigung Teil II von demjenigen zu beweisen wäre, der sich auf den gutgläubigen Erwerb beruft. Denn für die von dem Erwerber zu beweisenden Erwerbsvoraussetzungen nach § 929 Satz 1 BGB spielt die Vorlage der Bescheinigung keine Rolle. Rechtliche Bedeutung hat sie nur im Zusammenhang mit dem guten Glauben des Erwerbers. Dessen Fehlen muss der gesetzlichen Regelung zufolge der bisherige Eigentümer beweisen.

Allerdings trifft den Erwerber, der sich auf den gutgläubigen Erwerb beruft, regelmäßig eine sogenannte sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Vorlage und Prüfung der Zulassungsbescheinigung Teil II. 

Er muss also seinerseits vortragen, 
wann, 
wo und 
durch wen 
ihm die Bescheinigung vorgelegt worden ist und dass er sie überprüft hat. 

Dann muss der bisherige Eigentümer beweisen, dass diese Angaben nicht zutreffen. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe mit dem Vortrag zu der Vorlage einer hochwertigen Fälschung ihre sekundäre Darlegungslast erfüllt und die Beklagte habe den Beweis für die fehlende Gutgläubigkeit der Klägerin nicht geführt, ist nicht zu beanstanden. Das gilt insbesondere für die Auffassung, der gute Glaube der Klägerin sei nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Autohaus dem Vermittler die Zulassungsbescheinigung Teil II nicht ausgehändigt habe. Das Berufungsgericht sieht einen plausiblen Grund für den Einbehalt der Bescheinigung darin, dass – wie in dem Kaufvertrag vereinbart – auf diese Weise sichergestellt werden sollte, dass die Klägerin die Gelangensbestätigung (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV) übersendet, mit der bei innergemeinschaftlichen Lieferungen die Umsatzsteuerfreiheit nachgewiesen werden kann. Das hält der eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle stand.“ (BGH, Urteil vom 23.09.2022, V ZR 148/21).

Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

9.805 Fahrzeuge wurden in Deutschland im vergangenen Jahr gestohlen. Hinzu kommen noch viele hunderte mehr, in denen der Verkäufer, auf andere Weise als durch Diebstahl, in den Besitz eines Fahrzeugs gekommen ist. In solchen Fällen stellt sich dann oft die Frage nach dem gutgläubigen Erwerb, für den der BGH nun noch einmal die Beweislast spezifiziert hat.

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Urteil Nr. 8: Verwaltungsrechtliche 3-Tages-Zugangsfiktion gilt nicht in allen Fällen

Drei Tage. Dann beginnt die Frist – zum Beispiel für einen Widerspruch – zu laufen. Das gilt für alle Bescheide, die Behörden mit einfacher Post verschicken. Geht das amtliche Schreiben gar nicht zu, wird auch keine Frist in Gang gesetzt. Es sei denn, der Empfänger führt ein Posteingangsbuch. 


Sachverhalt

Eine Amtsgemeinde erhielt vom Ministerium einen subventionsrechtlichen Zinsbescheid. Das Schreiben wurde nicht an den Bevollmächtigten, der sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei Gericht noch nicht unter Vorlage einer auf ihn lautenden Vollmacht bestellt hatte, sondern unmittelbar an die Gemeinde geschickt. Erst mehr als einen Monat später klagte die Gemeinde gegen den Bescheid – und behauptete, um den Fristablauf zu widerlegen, keine Post vom Ministerium erhalten zu haben.


Entscheidung

Frist abgelaufen. Nach der verwaltungsrechtlichen Bekanntgabefiktion gilt ein mit einfacher Post verschickter Bescheid als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als zugegangen (§ 41 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz). 
Die Zugangsfiktion gilt nicht, wenn der Bescheid dem Empfänger überhaupt nicht zugegangen ist. Um Zweifel am Zugang zu begründen, reicht in der Regel einfaches Bestreiten aus. Denn normalerweise kann ein Empfänger keine genaueren Umstände darlegen, die gegen den Zugang sprechen. Das gilt aber nicht in allen Fällen: Bei behördlichen Adressaten, die eine Posteingangsdokumentation führen, reicht einfaches Bestreiten nicht. Das liegt daran, dass solche Empfänger beispielsweise darlegen können, dass dort im Posteingangsbuch für den möglichen Zugangszeitraum kein entsprechender Eingang verzeichnet ist. Solche Adressaten trifft außerdem ab Prozessbeginn eine verfahrensrechtliche Obliegenheit, die Dokumentation bis zum Abschluss des Verfahrens zu Beweiszwecken aufzubewahren. Geht die Dokumentation des Posteingangs, wie in diesem Fall von Empfänger eingewandt und von diesem zu vertreten, verloren, reicht kein einfaches Bestreiten mehr. Es gilt also wieder die Drei-Tages-Zugangsfiktion (BVerwG, Urteil vom 21.09.2022, 8 C 12.21).


Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

Im Verwaltungsrecht tätige Anwälte sollten dieses Urteil zum Anlass nehmen, sich gegenüber dem Gericht als Bevollmächtigter ordentlich zu bestellen – und zwar unter Vorlage der entsprechenden Vollmacht. Sonst erfolgt die Zustellung an den Mandanten, was unerwartet den Fristlauf in Gang setzen kann.

Urteil Nr. 9: Ab sofort muss der Arbeitgeber seine Mitarbeiter bitten, Urlaub zu nehmen

Nicht genommener Urlaub verjährt nach drei Jahren. Doch wann beginnt die dreijährige Frist? Darauf hat der EuGH jetzt eine klare Antwort gefunden: Ob und wann der Urlaub verfällt, liegt am Arbeitgeber.


Sachverhalt

Eine Steuerfachgehilfin hatte wegen hoher Arbeitsbelastung über mehrere Jahre keine Möglichkeit, Ihren Urlaub vollständig zu nehmen. Ihr Arbeitgeber stellte ihr deshalb, eine Bescheinigung aus, aus der sich ergab, dass noch 76 Tage Resturlaub offen seien. Doch auch danach nahm die Kollegin ihren Urlaub nicht vollständig, ohne dass sie vom Arbeitgeber darauf hingewiesen wurde, dass ihr Urlaub verjähren könnte. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zahlte der Arbeitgeber 76 Resturlaubstage aus. Die Arbeitnehmerin forderte die Auszahlung ihres vollständigen noch offenen Urlaubs in Höhe von insgesamt 101 Tagen. Das entsprach 17.400 €.


Entscheidung

Nicht genommener Resturlaub verjährt normalerweise nach drei Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt aber erst zu laufen, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber auf den drohenden Verfall des Urlaubs hingewiesen worden sind (EuGH, 22.09.2022, C-120/21 LB).


Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

„Und dann wäre da noch der Resturlaub.“ Mit diesen Worten erinnern im Arbeitsrecht tätige Anwälte im Rahmen der Vergleichsverhandlungen im Kündigungsschutzprozess noch an die Urlaubsabgeltung. Das wird ab sofort noch wichtiger, weil nach einem neuen EuGH-Urteil weniger Urlaub verfallen könnte.  


Urteil Nr. 10: Cannabis-Konsum in der Freizeit kann das Arbeitslosengeld kosten

Sogar ein ehemaliger US-Präsident musste sich wegen eines möglichen Cannabis-Konsums schon einmal herausreden: Bill Clinton behauptete damals, Marihuana geraucht, aber nicht konsumiert zu haben. Ein neues Urteil zeigt nun: Ausreden helfen oft nicht weiter – erst recht nicht gegenüber der zuständigen Bundesagentur für Arbeit.


Sachverhalt

Ein Berufskraftfahrer wurde in seiner Freizeit nach Cannabis-Konsum hinter dem Steuer erwischt. Für mehrere Wochen musste er daher den Führerschein abgeben. Daraufhin kündigte ihm der Arbeitgeber. Schließlich wurde dem Kraftfahrer auch noch das Arbeitslosengeld gesperrt, weil er den Verlust seines Arbeitsplatzes zumindest grob fahrlässig verschuldet habe.


Entscheidung

Die Sperre des Arbeitslosengeldes hat Bestand. Genauso wie die Kündigung, wie zuvor bereits das Arbeitsgericht bestätigt hatte. Obwohl das Freizeitverhalten für das Arbeitsverhältnis eigentlich keine Rolle spielt, ist das bei Tätigkeiten, die einen Führerschein erfordern, anders: Wer seine Fahrerlaubnis vorsätzlich oder grob fahrlässig verliert, der muss nicht nur mit seiner Kündigung, sondern auch noch mit einer Sperre des Arbeitslosengeldes rechnen (SG Stuttgart, Urteil vom 29.08.2022, S 6 AL 5194/20).


Deshalb hat es diese Entscheidung in die Top-Ten geschafft

Die Pläne der Bundesregierung zur Legalisierung von Cannabis werden immer konkreter. Schon 2023 könnte es so weit sein. Das wird die Zahl der Fälle, in denen Marihuana als Grund für einen vermeintlich selbst verschuldeten Verlust des Arbeitsplatzes genannt wird, noch erhöhen. Das gilt aber nur dann, wenn der Freizeitkonsum – zum Beispiel durch den Verlust der Fahrerlaubnis – ähnlich wie bei Alkoholeinfluss auf die berufliche Tätigkeit unmittelbare Auswirkungen hat, wie das zum Beispiel bei Berufskraftfahrern der Fall ist. 
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