Das Legal Tech-Gesetz in der parlamentarischen Debatte
I. Ein großer Wurf aus drei Elementen
Die Bundesregierung hat sich im Jahre 2020 entschlossen, im Berufsrecht der Rechtsdienstleister zum großen Wurf auszuholen, oder besser: zu drei Würfen, die zusammen genommen etwas Großes ergeben könnten. So, wie die Entwürfe derzeit ausgestaltet sind, stünde am Ende nach 750 Seiten Entwürfen und Entwurfsbegründungen wieder nur Stückwerk.1 Immerhin: Die Diskussion wird jetzt geführt und ein parlamentarischer Prozess wurde in Gang gesetzt. Noch sind keine Türen geschlossen. Wenn die Abgeordneten inmitten des Verfahrens kraftvoll und beherzt ihre Berufung zur Gestaltung annehmen würden, dann könnte noch etwas gelingen.
Der Regierungsentwurf mit dem ambitioniertesten Titel ist das Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt. Er nimmt das große Ganze ins Visier, den Markt, das Rechtsgeschehen. Mit unter 50 Seiten ist dieser Entwurf der kleine Bruder der zwei anderen, jeweils etwa 350 Seiten starken Entwürfe: Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe sowie – weit über das Berufsrecht hinausgreifend - Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG). Drei unterschiedliche, in vielerlei Hinsicht heterogene, dennoch streckenweise verzahnte und ineinandergreifende Gesetzentwürfe.
II. Gesetzgebungsverfahren
Eher zaghafte Öffnungstendenzen in den Entwürfen waren nicht erst seit Bekanntwerden der Referatsfassungen im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) Gegenstand heftiger Kontroversen. Es vermag daher nicht zu verwundern, dass einige der progressiven Ansätze schon im Bundesrat auf Widerstand gestoßen sind. Nach Verabschiedung der drei Entwürfe im Bundeskabinett am 20. Januar 2021 waren sie zunächst dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet worden. Die Stellungnahmen wurden in der Sitzung des Bundesrates2 am 5. März 2021 verabschiedet.
Nach einer Gegenäußerung der Bundesregierung3 fand das Legal Tech-Gesetz sodann am 17. März 2021 Eingang in den Deutschen Bundestag.4 Es wurde am 25. März 2021 an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen.5
III. Parlamentarische Überlegungen zum Legal Tech-Gesetz
1. Normale Inkohärenz
Unter der Ziffer 1, also prominent in den Vordergrund der Stellungnahme gerückt, heißt es in der Stellungnahme des Bundesrates: „Der Bundesrat erkennt an, dass der derzeitige Regelungsrahmen Legal Tech-Unternehmen, die Verbrauchern auf Grundlage einer Inkassoerlaubnis nach § 2 Absatz 2, § 10 Absatz 1 Nummer 1 RDG eine risikolose Rechtsverfolgung anbieten können, gegenüber der Anwaltschaft begünstigt.“
Die Begründung, die dann folgt, will zu diesem Programmsatz nicht mehr passen. Dort geht es um den „niedrigschwelligen“ Zugang zum Recht (dazu sogleich zu 2.). In den Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates vom 22. Februar 20216 waren entsprechende Vorschläge enthalten, auch im Hinblick auf die Möglichkeit eigener Rechtsdurchsetzung durch juristische Laien, dort indes noch in anderem Kontext. Die überraschende Fügung von Aussage und darauf nicht abgestimmter Begründung in Ziffer 1 ist offenbar den Irrungen der Entstehungsgeschichte geschuldet.
Die Gegenäußerung der Bundesregierung fällt trocken aus: „Die Bundesregierung teilt die Einschätzung des Bundesrates, dass der derzeitige Regelungsrahmen Legal-Tech-Unternehmen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern auf Grundlage einer Inkassoerlaubnis nach § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) eine risikolose Rechtsverfolgung anbieten können, gegenüber der Anwaltschaft begünstigt.“7
Alle stellen die Inkohärenz fest, getan wird dagegen etwas, aber die meisten Widersprüchlichkeiten bleiben doch bestehen. Auch wenn der Gesetzentwurf verabschiedet werden sollte, werden Anwälte im Ergebnis signifikant weniger dürfen als andere Rechtsdienstleister mit einer niedrigeren Berufszugangshürde.
2. Zugang zum Recht: Über Rechtsdienstleister oder direkt?
Zum einen wird in der Bundesrats-Stellungnahme die in einem Rechtsstaat geradezu vorwitzig anmutende Forderung aufgestellt, den Zugang zum Recht so niedrigschwellig auszugestalten, dass die Inanspruchnahme von Rechtsdienstleistungen für die Rechtsdurchsetzung keine Notwendigkeit mehr darstelle. Das gipfelt in der äußerst gewagten These: „Nur wenn Verbraucher zwischen der Möglichkeit, ihre Rechte selbst durchzusetzen und anderen Formen der Rechtsdurchsetzung frei wählen können, kann ein fairer und verbrauchergerechter Rechtsdienstleistungsmarkt entstehen.“ Wer keine Rechtsdienstleistungen benötigt, wird seine Rechte mit anderen Hilfsmitteln durchzusetzen versuchen. Da auch Inkassounternehmen unter die Rechtsdienstleister fallen, wären das also noch anders strukturierte Anbieter, etwa rein technikbasierte Unterstützungs-Tools, die nicht unter die Rechtsdienstleistungen i.S. des § 2 Abs. 1 RDG zu subsumieren wären.
Zum anderen aber möchte der Bundesrat – diametral entgegengesetzt – den Begriff der Inkassodienstleistung am liebsten so eingrenzen, „dass das Kerngeschäft der Rechtsdienstleistung mit der erforderlichen rechtlichen Klarheit der Rechtsanwaltschaft vorbehalten bleibt“. Legal-Tech-Tools könnten einerseits den Zugang zum Recht vor allem für Verbraucher in bestimmten Bereichen erleichtern, Kosten sparen und neue Geschäfts-felder für Unternehmen eröffnen. „Andererseits bergen standardisierte Legal-Tech-basierte Inkassodienstleistungen erhebliche Risiken, da eine qualitativ hochwertige, interessengerechte Rechtsdienstleistung nicht im gleichen Maß sichergestellt ist wie bei einer individuellen Beratung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt“.
Nach der Lektüre bleibt der Betrachter der Bundesrats-Stellungnahme ratlos zurück. Wohin möchte das Parlament steuern? Soll besser ganz auf Rechtsdienstleister verzichtet werden, womöglich mit der weiteren Folge, dass dem Staat die Kosten für deren Inanspruchnahme erspart würden? Immerhin führen Beratungs- und Prozesskostenhilfe jährlich zu nicht unerheblichen Belastungen der Haushalte.
Es überrascht, wenn der Bundesrat die Existenz eines „fairen“ und verbrauchergerechten Rechtsdienstleistungsmarktes davon abhängig machen will, dass Verbraucher die Wahl hätten, ihre Rechte selbst durchzusetzen oder sich professioneller Dienstleister zu versichern. Die Vorfrage, wie ein Verbraucher eine sachgerechte Auswahl treffen sollte, wird hier nicht gestellt, geschweige denn einer Lösung zugeführt. So bleibt es ein Stück weit dem Zufall überlassen, ob die freie Wahl des Nachfragers am Rechtsmarkt zu angemessenen, zielführenden Resultaten führt oder nicht.
Unerwartet ist aber auch, dass der Bundesrat die Forderung nach solcher Wahlmöglichkeit programmatisch nach vorne stellt, gleichsam als ob diese Freiheit nun erstmals geregelt werden müsste. In Wirklichkeit ist genau das aber gerade nicht neu, sondern ein seit jeher anerkannter und tradierter Grundsatz. Schon unter der Geltung der Gewerbeordnung besaßen Kunden von Rechtsdienstleistungen die Möglichkeit, sich ihre Unterstützung in Rechtssachen selbst auszusuchen. Nachdem das mit den sog. Winkeladvokaten zu Qualitätsproblemen beigetragen hatte, aber auch aus Gründen, die im historischen Kontext zu suchen sind, wurde mit dem Rechtsberatungsgesetz von 1935 die Wahl eingeschränkt. Auch damals und seither konnte der Verbraucher aber zwischen drei Kategorien grundsätzlich eine Auswahl treffen: Eigene Wahrnehmung von Rechten, Inanspruchnahme von Unterstützung durch Verbände und Rechtsdienstleister und schließlich die Mandatierung von Rechtsanwälten.
3. Legal Fracking
Aus Ziffer 3 der Ausschuss-Empfehlungen des Bundesrats spricht ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Rechtsanwälten als den Anbietern, die das angestammte Terrain der Rechtsberatung beherrschten: „Vor diesem Hintergrund stellt der Bundesrat fest, dass der Gesetzentwurf primär der Angebotsseite dient, namentlich dazu, der Anwaltschaft den Zugang zum Markt nicht durchgesetzter Verbraucheransprüche zu eröffnen (sog. legal fracking).“
Diese Einschätzung lohnt eine nähere Betrachtung. Grundsätzlich steht der Anwaltschaft schließlich der Zugang zum Rechtsmarkt einschränkungslos frei. Anwälte sind sogar die einzigen Anbieter, denen vom Gesetzgeber schon immer die Befugnis zugebilligt wurde, auf dem gesamten Rechtsbereich ihre Dienste anzubieten. Wenn von einem Zugang zum Markt gesprochen wurde, dann nicht im Zusammenhang mit Rechtsanwälten, deren Präsenz dort ohne Weiteres vermutet worden wäre, sondern lediglich mit anderen Anbietern.
Erkennbar weicht die Einschätzung des Bundesrates von dieser allzu vertrauten Sichtweise ab. Ist es vielleicht nur eine Illusion, anzunehmen, Anwälte beherrschten das Terrain, sind sie in Wirklichkeit schon zurückgewichen, womöglich sogar, ohne sich darüber im Klaren zu sein? Oder hat der Bundesrat einen Teilmarkt „nicht durchgesetzter Verbraucheransprüche“ im Blick, den die Anwaltschaft noch gar nicht betreten hatte? Und: Worauf könnte der Verbraucherausschuss des Bundesrates konkret anspielen, wenn er den Gesetzentwurf als einen Versuch versteht, Anwälten den Marktzugang zu eröffnen?
Wenig im Legal Tech-Gesetzentwurf betrifft die Anwaltschaft unmittelbar. Überwiegend adressiert der Entwurf die übrigen Anbieter auf dem Rechtsberatungsmarkt, hauptsächlich also Inkassobüros. Um Rechtsanwälte geht es vorrangig dort, wo Gebührenvorschriften liberalisiert werden. Der Gesetzentwurf geht dieses Thema vorsichtig an, er öffnet einen Spalt. Forderungen mit Streitwerten bis zu 2.000 Euro werden freigegeben und dort, wo Rechtsdienstleister es dürfen, sollen Anwälte auf ihr Honorar sogar gänzlich verzichten dürfen.
Nur das kann der Ausschuss des Bundesrates gemeint haben, wenn er von „legal fracking“ und von einem – erstmaligen – Zugang der Anwaltschaft zum Markt spricht. Nimmt man offenen Auges die Realität zur Kenntnis, wird man feststellen, dass er sich nicht irrt. Die Geltendmachung von Ansprüchen der Gäste im Flug- oder Bahnbereich hat im Grunde erst begonnen, als die ersten Legal Tech-Unternehmen ihre Aktivitäten aufnahmen. Theoretisch hätten Rechtsanwälte das auch wahrnehmen können. Sie taten es aber nicht.
4. Erfolgshonorar
a) Ablehnung des Erfolgshonorars bei Anwälten
Der Rechtsausschuss des Bundesrates lehnt die Einführung von Erfolgshonoraren im Anwaltsbereich ab. In der Begründung zu Ziffer 6 b) der Ausschuss-Empfehlungen heißt es dazu: „Die geplante Regelung ist abzulehnen und § 4a RVG daher zu streichen. ... Rechtsanwälte leisten einen maßgeblichen Beitrag zur Sicherung des Zugangs zum Recht und haben für das Funktionieren unseres Rechtsstaates eine elementare Bedeutung. Dabei sind die Beschränkung der Möglichkeit, Erfolgshonorare zu vereinbaren (§ 49b Absatz 2 Satz 1 BRAO), sowie das Verbot der Prozessfinanzierung (§ 49b Absatz 2 Satz 2 BRAO) wesentliche Bausteine zur Sicherung der Stellung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege.“
In der letzten Fassung der Stellungnahme des Bundesrates ist dieser Ansatz aufgegeben worden zugunsten eines gewissen Zurückschneidens von Angeboten mit erfolgsbezogener Vergütung. In Ziffer 3 der Stellungnahme steht nun:
„Eine uneingeschränkte Zulassung von Erfolgshonoraren für Geldforderungen von bis zu 2000 € und Inkassodienstleistungen kann dazu führen, dass auch Rechtsanwälte verstärkt Inkassodienstleistungen anbieten und dabei ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Aufwand den vollen Gebührenrahmen ausschöpfen, da der Gläubiger nur bei erfolgreichem Inkasso ein Honorar zahlen muss, dieses aber vom Schuldner als Verzugsschaden erstattet bekommt. Dies würde den Bemühungen zuwiderlaufen, unseriösen Vergütungsmodellen zulasten der Schuldner die Grundlage zu entziehen und die Ursache für unverhältnismäßige Inkassogebühren zu bekämpfen.“
Wenn das Gesetz einen Rahmen vorsieht, dann ist er nach pflichtgemäßem Ermessen auszufüllen. Eines der wesentlichen Kriterien für die Ermessensausübung ist der Aufwand. Ein geringer Aufwand zieht typischerweise niedrige Honorare nach sich, so lautet die Logik dieses Systems. Der Bundesrat erwähnt die fehlende Seriösität und meint offenbar Gebührenüberhebung: Den Ansatz von Anwaltsgebühren, die sich bei korrekter Anwendung des Gesetzes nicht ergäben, und Betrug, nämlich die Behauptung von Kostenerstattungsansprüchen, obwohl der vorgespiegelte Schaden bei zutreffender Rechnungslegung überhaupt nicht zu erkennen wäre.
Transparent formuliert, müsste der oben zitierte Teil der Begründung des Bundesrates damit eigentlich wie folgt lauten: „Eine uneingeschränkte Zulassung von Erfolgshonoraren für Geldforderungen von bis zu 2.000 € und Inkassodienstleistungen kann dazu führen, dass Rechtsanwälte sich der Gebührenüberhebung und des Betruges schuldig machen. Um dem vorzubeugen, sollte es beim generellen Verbot bleiben.“
Müßig, zu erwähnen, dass all´ dies auf einem Bild vom Anwaltsberuf fußt, das der Realität auch nicht im Ansatz gerecht zu werden vermag. Mangels eines vernünftigen Verbotszwecks steht bei nüchterner Betrachtung dem Wegfall bisheriger Verbote von Erfolgshonorar nichts im Wege, und das unabhängig von der Höhe des Wertes, um den es geht. Auch die Gegenäußerung der Bundesregierung hält „schon die Begründung des Bundesrates [für] nicht nachvollziehbar“.8
b) Kappung des Erfolgshonorars
In Ziffer 3 der Bundesrats-Stellungnahme geht es um die Höhe der Erfolgsbeteiligung: Der Bundesrat möchte die Höhe des Erfolgshonorars bei Inkassodienstleistungen, die für einen Verbraucher erbracht werden, auf einen bestimmten Anteil der durchzusetzenden Forderung begrenzen, maximal 25 Prozent.
In der Begründung heißt es: „Dass Verbraucher … auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten, widerspricht … dem Grundgedanken, dass derjenige, der zurecht eine Forderung geltend macht, keinen Schaden haben soll. ... Das bestehende Defizit in der Rechtsdurchsetzung, das zu Recht beklagt wird, würde möglicherweise durch eine Situation abgelöst, bei der Verbraucher flächendeckend von vornherein auf einen nicht unerheblichen Teil ihrer Forderungen faktisch verzichten. Aus diesem Grund sollten Möglichkeiten geprüft werden, wie negativen Entwicklungen vorgebeugt werden kann. Eine Deckelung von Erfolgshonoraren könnte dabei eine praktikable Lösung darstellen.“
Der Bundesrat erkennt ein bestehendes Defizit in der Rechtsdurchsetzung. Er stimmt in das Klagelied darüber ein. Um dann vor der eigenen Courage zurückzuschrecken. Verbraucher würden, so malt der Bundesrat an die Wand, „flächendeckend auf einen nicht unerheblichen Teil ihrer Forderungen faktisch verzichten“. Diesen negativen Entwicklungen möge vorgebeugt werden.
Die Frage muss erlaubt sein, ob der Bundesrat an dieser Stelle von einer zutreffenden Prämisse ausgeht. Verzichtet denn der Kunde eines Legal Tech-Unternehmens, verzichtet der Mandant einer Anwaltskanzlei, wenn er mit dem Dienstleister eine erfolgsbezogene Vergütung verabredet?
Unsere Betrachtung soll von dem ausgehen, was der Gesetzgeber selbst als angemessen statuiert hat. Im Gebührenrecht der Anwälte gibt es schließlich seit jeher eine Erfolgskomponente: Die frühere Vergleichs- und heutige Einigungsgebühr. Sie fällt an, wenn sich ein Mandant typischerweise nicht zu 100 Prozent mit einer Forderung durchsetzt, sondern Abschläge hinnimmt, um mit der Gegenseite zu einer gütlichen Einigung zu gelangen. Oft wird in solchen Fällen vereinbart, auf die Kostenerstattung wechselseitig zu verzichten. Zu der Einbuße durch den Kompromiss kommt also für den fordernden Klienten die weitere Kostenposition der Einigungsgebühr hinzu. Insgesamt kann der Vergleichsbetrag, der bei ihm ankommt, spürbar magerer ausfallen als gedacht, als der Mandant den Anwalt einschaltete. Hält der Gesetzgeber ein solches System für ungerecht, da der Betroffene sogar mehrfach Abschläge hinnehmen muss? Keineswegs. Der Vorteil, seinen Gerichten das Verfassen von Urteilen und womöglich deren Überprüfung in höheren Instanzen zu ersparen, wiegt für den Staat so schwer, dass er die Einschnitte beim Verbraucher dafür leichten Herzens eintauscht.
Verzicht, diese Vokabel deutet auf ein Geschenk, ein Verlassen ohne Gegenleistung. Entspricht das dem Geschäftsmodell, das der Bundesrat hier kritisiert? Durchaus nicht. Der Kunde tauscht Geld gegen die Chance, einen anderen Geldbetrag zu erhalten. Der Kunde bezahlt eine Leistung mit einem Teil des Erlangten. Er entrichtet einen Preis. Mit einem „Verzicht“ hat das nichts zu tun.
Ein Kostenerstattungsanspruch ist keineswegs so selbstverständlich, wie es dem Bundesrat vorzuschweben scheint. Viele Konstellationen enden damit, dass ein Anspruchsteller die Kosten seiner Rechtsverfolgung selbst zu tragen hat. Das gilt auch im Verbraucherbereich. Klagt etwa ein Arbeitnehmer seinen Lohn vor dem Arbeitsgericht ein, lässt sich durch eine Anwaltskanzlei vertreten und obsiegt, so hat er seine Kosten selbst zu tragen. Das ist das gesetzliche System. Außergerichtlich muss der Arbeitnehmer seine Kosten ebenfalls allein übernehmen. Bei wirtschaftlicher Betrachtung sind diese Kosten der Rechtsverfolgung von dem Erlangten abzuziehen, um den möglichen Ertrag zu ermitteln. Echauffiert sich darüber die juristische Welt, sind das Konstellationen unerträglicher Ungerechtigkeit? Keineswegs. Niemand nimmt an dem System des Ausschlusses der Kostenerstattung in vielen Fällen Anstoß. Und damit an einem „Verzicht“ in der Diktion der Bundesrats-Stellungnahme.
5. Wegfall der Kostenerstattung?
Dem Verbraucherausschuss des Bundesrates schwebte sogar eine Erweiterung dieses Systems vor. Das ist indes nicht in die Stellungnahme des Bundesrates eingeflossen. Zu erwägen sei (Nr. 5 lit. b der Empfehlungen der Ausschüsse) „die Einführung einer Regelung, nach der die unterliegende Partei, wenn es sich um eine natürliche Person handelt, die nicht durch einen Rechtsanwalt oder sonstigen Rechtsbeistand vertreten ist, nicht verpflichtet ist, die Gebühren des Rechtsanwalts oder sonstigen Rechtsbeistands der anderen Partei zu erstatten“.
Keine Kostenerstattung mehr für anwaltliche Vertretung. Der Vorschlag des Ausschusses ging nur in eine Richtung, nämlich gegen Unternehmen und für Verbraucher. Ihm lag indes die grundsätzliche Idee zugrunde, es könne unangemessen sein, eine Person, die ihr Recht durchzusetzen trachtet, von Kosten freizustellen.
Nehmen wir an, ein Unternehmen der Telekommunikationsbranche klage eine Monatsgebühr bei einem Verbraucher ein. Die Grundgebühr betrage nur wenige Euro, die Anwaltskosten überstiegen diesen Betrag sogar. Wenn nun die Kostenerstattung prinzipiell entfiele, auch wenn das Unternehmen lediglich sein Recht durchsetze und dementsprechend gewönne: Welches Unternehmen würde in solchen Fällen noch Klage erheben? Es wäre gänzlich irrational, einen Prozess anzustrengen, bei dem selbst im besten Fall nichts als Verluste entstehen könnten. Der Ausschuss des Bundesrates wollte ein Prinzip einführen, das Teile der Wirtschaft frei von jeder Verfolgung von Rechten gestellt hätte.
6. Anti-Legal Tech-Regulierung
Mehrere Vorschläge des Bundesrates richten sich unverhohlen gegen bestehende, gängige Geschäftsmodelle von Rechtsdienstleistern.
a) Der Mittelpunkt von Massenklagen
Unter Ziffer 5 seiner Stellungnahme will der Bundesrat durch eine Präzisierung des § 4 RDG sicherstellen, „dass der einzelne Rechtsuchende mit seinen individuellen Erfolgsaussichten auch bei der Rechtsdienstleistung eines Inkassodienstleisters, insbesondere der gebündelten gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen unterschiedlicher Rechtsuchender sowie bei Beteiligung eines Prozessfinanzierers, im Mittelpunkt steht“.
Schon die abstrakte Betrachtung der Aufgabenstellung erweist, dass es nicht um Gestaltung, sondern um Abschaffung geht. Die Bündelung von Ansprüchen ist in der Praxis beispielsweise bei parallel gelagerten Forderungen gegen Kartellanten oder Automobilhersteller anzutreffen. Werden etwa im Kartellbereich annähernd 100.000 Ansprüche im Zuge einer einzigen Klage geltend gemacht, wie könnte dann jeder der Anspruchsteller individuell „im Mittelpunkt stehen“? Wer sich an Massenklagen beteiligt, weiß, dass er seine Ansprüche in eine Gesamtforderung einbettet. Er macht sich zum Teil eines Ganzen, ordnet sich ein, ordnet sich in gewisser Weise unter, und das zu einem klaren Zweck: Die Stärke der Masse zu nutzen. Das ist keineswegs verwerflich, es ist auch nicht sittenwidrig, weder, was der Anspruchsteller, noch, was der Anbieter derartiger Dienstleistungen unternimmt. Es muss nicht immer die beste Strategie darstellen, im Mittelpunkt zu stehen.
Die Bundesregierung weist in ihrer Gegenäußerung im Übrigen darauf hin, dass der Bundesrat den „Mittelpunkt“ lediglich bei Bündelung durch Rechtsdienstleister, nicht aber durch Rechtsanwälte fordert,9 was wiederum wenig kohärent erscheint.
b) Ausschluss von Rechtsmaterien
In Ziffer 6 seiner Stellungnahme will der Bundesrat bestimmte komplexe Rechtsmaterien von der Erbringung als Inkassodienstleistungen ausschließen. Er hält in diesem Kontext einen Ausschluss im Bereich der Anfechtungsklagen nach § 246 AktG, das Recht der verbundenen Unternehmen nach §§ 291 bis 393 AktG, das Kartellrecht und das Naturschutzrecht für geboten.
Zum Teil handelt es sich bei den vom Bundesrat aufgeführten Materien gar nicht um solche, bei denen es um Geldforderungen geht: Anfechtungsklagen im Beschlussmängelrecht und das Konzernrecht sind anders gelagert. Zum anderen Teil geht es zwar um Forderungen. Es stellt sich aber die Frage, warum just ein Bereich wie das Kartellrecht, also rein unternehmensbezogene Forderungen, für Legal Techs versperrt bleiben soll. Die Antwort liefert womöglich ein Hinweis in der Tagespresse.10 Dort war nämlich deutliche Kritik an der Besetzung des Ausschusses für Agrarpolitik zu lesen. Eine Inkassogesellschaft machte für zahlreiche Betriebe gegen Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen und Baden-Württemberg gegen Ansprüche im sog. „Rundholzkartell“ mit einem Streitwert von mindestens 830 Millionen Euro geltend. Das könnte der Anlass für die Bundesländer gewesen sein, den Versuch zu unternehmen, sich durch eine Gesetzesänderung derartiger Forderungen möglichst zu entledigen.
In seiner Begründung verweist der Bundesrat noch darauf, „dass die genannten Bereiche nicht nur in rechtlicher Hinsicht komplex sind, sondern bedeutsame Unternehmensformen, wie Aktiengesellschaften und Konzerne betreffen, die auf ein konstruktives Zusammenwirken der Anteilseigner angewiesen sind.“ Mit anderen Worten: Der Bundesrat möchte Konzerne von Klagen der Anteilseigner verschonen. So offen sind die Ergebnisse erfolgreicher Lobbyarbeit selten zu lesen.
c) Einschränkungen der Legal Tech-Befugnisse?
In der Gegenäußerung der Bundesregierung heißt es: „Eine vom Bundesrat möglicherweise intendierte weitere Eingrenzung des Begriffs der Inkassodienstleistung wäre … vor dem Hintergrund der Berufsfreiheit der Inkassodienstleister und des Umstandes, dass bisher keine nennenswerten Probleme aufgetreten sind, verfassungsrechtlich nicht hinreichend zu rechtfertigen.“11
Dem ist zuzustimmen. Legal Techs im Gewande von Rechtsdienstleistern haben in den letzten Jahren Hunderttausende von Ansprüchen verfolgt. Kein einziger Fall, der als Missbrauch oder als Gefährdung der Rechtspflege angesehen werden könnte, ist dabei bekannt geworden. Verbote sind im Lichte der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG auch gegenüber derartigen Anbietern nur zu rechtfertigen, wenn sie einem nachvollziehbaren Gemeinwohlbelang dienen. Woher sollte der kommen?
7. Ein neues System
Zu Ziffer 8 wirft der Bundesrat die Frage der Systematik im Berufsrecht der Rechtsdienstleister auf. Er hält „es in Anlehnung der Verschwiegenheitspflicht nach § 43a Absatz 2 BRAO für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für geboten, eine Verschwiegenheitspflicht für Legal-Tech-Anbieter, die in der Regel als Inkassodienstleister auftreten, vorzusehen. Zudem bittet der Bundesrat die Bundesregierung um Prüfung, ob auch ein Doppelvertretungsverbot für diese Unternehmen gelten soll.“
Was hier als Kleinigkeit erscheinen könnte, betrifft bei näherer Betrachtung die Systematik der gesamten berufsrechtlichen Regelung. Hält man explizite Verbote etwa des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen oder Regelungen zur Verschwiegenheit bei Rechtsanwälten für erforderlich, dann kann es nicht einleuchten, warum für Rechtsdienstleister mit strukturell geringerer Qualifikation und deutlich weniger Überwachung das alles nicht gelten sollte.
Bei Schaffung des Rechtsdienstleistungsgesetzes hatte sich die Frage gestellt, ob neben Rechtsanwälten ein weiterer Beratungsberuf gelitten wäre, mit minderen Zugangsvoraussetzungen und minderen Kompetenzen, aber unter Anwendung des anwaltlichen Berufsrechts. Das lehnte der Gesetzgeber damals explizit ab: „Ein Anlass, neben diesem Beruf einen weiteren Beruf des nichtanwaltlichen Rechtsberaters mit geringeren Zugangsvoraussetzungen zu schaffen, besteht nicht, zumal eine Ausweitung der anwaltlichen Berufspflichten auf andere Berufe, auch um eine Erosion dieser Berufspflichten zu verhindern, unterbleiben soll“, so hieß es in der Begründung zum RDG-Entwurf 2006 unter der Überschrift „Keine Einführung eines allgemeinen Rechtsdienstleistungsberufs unterhalb der Rechtsanwaltschaft“.12
Aus heutiger Sicht muss man wohl nüchtern feststellen, dass dieses von vorneherein inkohärente Modell nach dem massenhaften Aufkommen von Legal Techs als gescheitert angesehen werden muss. Legal Techs dürfen heute Vieles, was traditionell von Rechtsanwälten wahrgenommen wurde. Ihnen die größeren Freiheiten einzuräumen als Rechtsanwälten, ist ein Zeichen mangelnder Regelungskohärenz.
Der Bundesrat hat daher im Grundsatz Recht, bleibt jedoch auf halber Strecke stehen. Konsequent zu Ende gedacht, müsste ein Rechtsdienstleistungs-Gesetzbuch künftig aus einem Allgemeinen Teil für jegliche Rechtsdienstleister bestehen, wo sich generelle Regelungen insbesondere zu den Grundpflichten fänden, wie sich bei Rechtsanwälten insbesondere in § 43a BRAO niedergelegt sind. Sodann müsste sich ein Besonderer Teil anschließen mit Vorschriften, die von strenger Ausgestaltung Rechtsdienstleistungsberufen bis hin zu liberalem Rahmen bei Rechtsanwälten als der am schwierigsten zugänglichen Profession reichten.
IV. Fazit
Die parlamentarische Debatte über eine Neuordnung des Berufsrechts von Rechtsanwälten und Rechtsdienstleistern bringt zuhauf Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten der bisherigen Normen an das Tageslicht. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen ist es, obwohl sie voluminös daherkommen, nicht getan. Auch wenn es dafür mitten im parlamentarischen Getümmel typischerweise zu spät ist, muss überlegt werden, ob nicht ein grundlegend neues Gesetzbuch konzipiert werden sollte, das kohärente Regelungen für alle Anbieter auf dem Rechtsdienstleistungsmarkt enthielte.
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*Der Autor ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG, Hamburg/Hannover/Berlin, FAfHaGesR, FAfInsR, FAfArbR, Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, und lehrt und berät seit etwa 25 Jahren im Berufsrecht.
1Ausführlich Römermann, AnwBl Online 2020, 588. 2BR-Drucks. 58/21 = BT-Drucks. 19/27673 ab S. 49. 3BT-Drucks. 19/27673 ab S. 61. 4BT-Drucks. 19/27673. 5Sitzungsprotokoll, S. 27519 (B). 6Empfehlungen des Rechtsausschusses sowie des Ausschusses für Agrarpolitik und Verbraucherschutz vom 22. Februar 2021, BR-Drucks. 58/1/21. 7BT-Drucks. 19/27673, S. 61. 8BT-Drucks. 19/27673, S. 62. 9BT-Drucks. 19/27673, S. 66. 10FAZ vom 5. März 2021: „Kartellklagen gegen Daimler ausgeweitet“. 11BT-Drucks. 19/27673, S. 65. 12Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts, BR-Drucks. 623/06, S. 60.