Der Weg der klein(sten) Schritte
Recht & Verwaltung08 Dezember, 2021

Der Weg der klein(st)en Schritte

von Marie-Anne Raithel

Biografische Spurensuche

Seit mehr als 16 Jahren bin ich in Kitas mit dem präventiven Kompetenztraining »HERZWESEN®-Lernen mit allen Sinnen« tätig. In den letzten Jahren habe ich mich mit Kleingruppenangeboten auf Kinder spezialisiert, die in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung beeinträchtigt oder gefährdet sind und bei denen eine biografische Spurensuche hilfreich erscheint. In die Spurensuche beziehe ich auch die Eltern sowie die Bezugserzieher/in und die Kita-Leitung mit ein. Ziel dieser Trainings ist es, einen Transfer zur Integration förderlicher Verhaltensweisen für das Kind zu schaffen und Ressourcen für den Übergang von der Kita in die Grundschule zu generieren. Einen Einblick in diese Form der Biografiearbeit bietet dieser Beitrag.

Wenn Erzieher/innen in Reflexionsgesprächen aus ihrer täglichen Praxis berichten, wird für alle schnell erkennbar, wie wichtig bereits in der Kita eine biografische Spurensuche sein kann – ein Weg, der aus vielen kleinen Schritten besteht und ganzheitlich, wertschätzend, offen, neugierig, kreativ und sensibel von einer Bezugsperson begleitet werden sollte. Biografiearbeit darf nicht als eine Methode verstanden werden. Im pädagogischen Kontext ist sie spielerisch, setzt auf der Ebene eines Kindes an, passt sich individuell an das Kind, sein Alter, seine emotionale und soziale Reife sowie seine persönliche Vorgeschichte an. Achtsam und einfühlend hilft die Spurensuche, ein vertieftes Verständnis für Verhaltensweisen eines Kindes zu entwickeln sowie Stereotype, z.B. Wiederholung von Mustern, zu verstehen, zu akzeptieren und zu würdigen.

Für wen oder was eignet sich Biografiearbeit?

Bereits junge Kinder werden mit Themen wie Krieg, Entwurzelung und Flucht konfrontiert. Auch schwerwiegende familiäre Konflikte, Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung der Eltern, der Verlust naher Angehöriger sowie körperliche und/oder psychische Erkrankungen von Bezugspersonen wie Depression, Sucht, Abhängigkeit u.a. sind oftmals belastende Situationen im Leben von Kindern. Zunehmend werden auch Fragen zur Geschlechterrollenidentität – Mädchen sein, Junge sein – angesprochen. Der Blick in die Lebensgeschichte in Form einer biografischen Spurensuche kann hier sehr hilfreich sein.

Wenn Kinder in ihrer Familie und/oder ihrem sozialen Umfeld Erfahrungen machen, die sehr belastend sind, reagieren sie auf diese Verunsicherungen und zeigen es häufig mit schwierigen, originellen oder aggressiven Verhaltensweisen bis hin zu lmpulsausbrüchen mit Gewalt gegen Dinge, sich selbst oder andere Menschen. Belastungen und Konflikte können sich auch als soziale Ängstlichkeit, Wut, Trauer, Rückzug oder mit Stimmungsschwankungen Ausdruck verleihen. Reagiert das Umfeld des Kindes mit einseitigen Erklärungen oder Deutungen, ergeben gerade im Rahmen von Biografiearbeit diese Verhaltensweisen bei achtsamer Betrachtung oft mehr Sinn, als wir im turbulenten Kita-Alltag wahrnehmen können. In diesem Zusammenhang können Verhaltensweisen und Reaktionen eines Kindes in spezifischen Situationen mehr als das Organisieren und Sichern des eigenen Überlebens in einer konflikthaft besetzten Lebenssituation verstanden werden.

Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher. (Albert Einstein)

Im Kita-Alltag sind die Tagesstrukturen und Abläufe so angelegt, dass sie den meisten Kindern vielfältige Möglichkeiten für die Entwicklung ihrer sozial-emotionalen Kompetenzen geben. Lust und Freude am Miteinander in der Gemeinschaft und Zeit für sich selbst können gerade in der Kita spielerisch geweckt werden. Immer wichtiger wird es jedoch, dass Erzieher/innen trotz eines straffen Kita-Alltags Möglichkeiten für ein Kind finden, es in seinem Verhalten, seinen Gefühlen und Bedürfnissen nach Beschäftigung, Ruhe- und Spielphasen individuell zu erfassen, seine Interaktionen zu verstehen und fördernde Angebote zu machen.

Das Zitat Albert Einsteins weist darauf hin, unterstützende Angebote so einfach wie möglich für ein Kind zu gestalten – die ungeteilte Aufmerksamkeit für das Kind und für das, was gerade lebendig ist, stehen dabei im Vordergrund! Oftmals gedeihen dann Prozesse für Unaussprechbares in Rollen- oder Puppenspielen ganz von selbst und bieten Möglichkeiten, Sachverhalte symbolhaft abzubilden, wie z.B. mit Handpuppen, durch das Hören und Erzählen von Geschichten, da Malen mit Farben, bildnerisches Gestalten und Singen.

Die Aussage im Zitat, »es nicht zu einfach zu machen«, ist in diesem Zusammenhang genau zu betrachten. Denn Biografiearbeit bedeutet auch, aus unterschiedlichen Perspektiven Informationen, Beobachtungen ohne Bewertungen und einseitige Deutungen zusammenzutragen, zu dokumentieren und die Erkenntnisse sowie Fakten im Team und mit den Eltern auszutauschen. In der Zusammenarbeit und in Gesprächen mit Eltern können Fragen zu Gesundheit und Krankheit, Einschlafen und Aufwachen, Essensgewohnheiten und Vorlieben oder Abneigungen gestellt werden, um Puzzlestück für Puzzlestück zusammenzutragen und zu einem ganzheitlichen Ansatz in der Begleitung zu verhelfen.

Personelle und fachliche Ressourcen für Biografiearbeit

Hierzu werden natürlich sowohl personelle als auch fachliche Ressourcen benötigt. Unterstützend werden in den letzten Jahren auch immer mehr Fortbildungen für Erzieher/innen angeboten. Neben dem Wissenstransfer geht es auch darum, das eigene Erleben in der Biografiearbeit für sich selbst überprüfbar und reflektierbar zu machen. Weiterbildungen mit einem hohen Selbsterfahrungsanteil und Möglichkeiten zur eigenen Reflexion tragen dazu bei, das Handlungsspektrum von Fachkräften so zu erweitern, dass ihnen Übertragungsphänomene bzw. prägende Muster aus dem eigenen Leben bewusster werden und Kohärenz und Widerstandsfähigkeit als bedeutende Schutzfaktoren verstanden werden, um gesund zu bleiben. Darüber hinaus kann z.B. auch die Teilnahme an Arbeitskreisen, Intervisionsgruppen oder Qualitätszirkeln hilfreich sein.

Erfahrungen aus der Praxis

In Kleingruppenkursen mit zwei bis maximal vier Kindern im Alten von 3 bis 6 Jahren arbeite ich über zehn Wochen jeweils eine Stunde mit dem sozial-emotionalen Kompetenztraining HERZWESEN®-Lernen mit allen Sinnen . Innerhalb des bausteinartigen Konzeptes mit einem sicheren Rahmen gibt es wiederkehrende Rituale und vorhersehbare Abläufe in Übungen, die Achtsamkeit, Wahrnehmung und Körpererfahrungen ermöglichen und eine ausgewogene Balance von Nähe und Distanz fokussieren. Kinder erleben mit Freude und Spaß wichtige Dinge wie Kommunikationsfähigkeit, Umgang mit eigenen Gefühlen/Bedürfnissen und denen von anderen in Geschichten und Spielen. Bei diesem Transfer sind Handpuppen wertvolle Unterstützer. Wichtige Entwicklungs- und Reifungsprozesse werden sanft und sensibel angestoßen – und zwar spielerisch auf der Ebene des Kindes und ohne viele Worte (siehe nachfolgendes Fallbeispiel).

Fallbeispiel: Sozial-emotionales Kompetenztraining mit vier Kindern im Alter von 5 Jahren

Max, ein 4 Jahre alter Junge nimmt auf Wunsch seiner Eltern sowie der Kita-Leitung an dem Training teil. Aus dem Vorgespräch am Elternabend ist bekannt, dass erst nach einigen fiebrigen Infektionen und Mittelohrentzündungen diagnostiziert wurde, dass er wohl eine längere Zeit unter einer Schwerhörigkeit gelitten haben muss, bevor der Junge Paukenröhrchen eingesetzt bekommen hat. Vor diesem Hintergrund kann man sich gut vorstellen, wie Max in dieser Zeit sein Überleben in einer Welt von Hörenden organisieren musste. In seinem Verhalten zeigte sich dies über einige Monate und wurde auch vonseiten seiner Eltern als eher originelles Verhalten gedeutet, wenn er nur zuhause trinken und essen wollte. Trotz einer engmaschigen Begleitung durch einen Logopäden war er im Kita-Alltag vielfach überfordert und zeigte im letzten Kita-Jahr als Vorschulkind deutlich Widerstand, Blockaden und große Ängste vor neuen Dingen.

Auch wenn Max nun wieder gut hören konnte und wichtige Dinge verstand, war er doch in seinem Verhalten sehr scheu, angstvoll und kaum in eine Gruppe integrierbar. Er reagierte mit Müdigkeit und schlief oftmals schon morgens ein, weinte beim Aufwachen und fand dann nur noch zu sich selbst, wenn er den Rest des Tages mit sich allein verbringen durfte.

Zusammen mit drei anderen Kindern nahm er als Vorschulkind an dem Training teil. Er erfuhr zunächst in den ersten Stunden, dass er so sein darf, wie er gerade ist und dass er nicht zu sprechen braucht, wenn er es nicht möchte. Er experimentierte mit Sprache, über ja und nein sagen spürte er seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Autonomie nach und lernte frei zu entscheiden, ob er sich an Gruppenübungen beteiligte und erlebte für sich, dass es so in Ordnung war. Zunehmend wurde er neugieriger, wirkte präsenter, lächelte und nahm sich auch in Übungen eine Handpuppe mit Namen NAVI, mittels der er immer wieder seine Gefühle spielerisch zum Ausdruck bringen konnte. Er schaute interessiert den anderen Kindern zu, wie diese ihre Gefühle in Worte kleideten. Zuerst sehr leise, zaghaft, manchmal mit einem Staunen über seinen eigenen Ausdruck verbunden, wurde er lebhafter. Besonders viel Spaß hatte er dabei, Geschichten mit den Handpuppen zu erleben und in die Runde der Kinder lächelnd zu schauen und in wenigen Worten zu erzählen, was ihm in der Geschichte gefallen hat. Wenn er Inhalte aus einer Geschichte beim Malen zu Papier brachte, nahm er sehr bewusst einen Platz etwas abgewandt von den anderen ein, summte dabei und war stolz über die vielen Farben, die sich auf dem Bild wiederfanden. Von Gruppenstunde zu Gruppenstunde wurde er wacher, mutiger, nahm Blickkontakt auf, saß näher bei der Gruppe und machte am Ende des Kurses einem Mädchen in der Gruppe ein tolles Kompliment.

Max sagte leise, sodass nur seine Nachbarin es hören konnte: »Das ist ein schönes Bild.« Das Lächeln des Mädchens und ihre Entgegnung: »Ich finde Dein Bild auch schön« waren emotionale Bewegungen, die auch Spuren bei den Eltern hinterließen.

Das gemeinsame Erlebnis war nachhaltig, denn die beiden Kinder fanden Zeit und Entspannung beim Malen weiterer Bilder mit Herzen sowie Figuren, Blumen, Tieren und einem Haus. Die Bezugserzieherin unterstützte auch über die Kursstunden hinaus die beiden Kinder in ihrem Wunsch, ein eigenes Büchlein zu gestalten. Am Kursende zeigten mir die Kinder voller Freude ihr eigenes Werk.

Am letzten Elternabend berichtete der Vater davon, dass auch er als Kind sehr schüchtern war und wenig Kontakt zu anderen Kindern aufgenommen hatte. Er sei eher ein Einzelgänger gewesen, sagte er von sich selbst und wirkte zuerst erstaunt über diese Erkenntnis und zugleich auch froh, dass er sie in dem kleinen Kreis der Eltern so authentisch zum ersten Mal ausgesprochen hatte.

Das Beispiel zeigt, wie die schwierige Zeit in der Lebensgeschichte von Max und seinen Eltern reflektiert wurde und so das Erleben und das Verhalten mit seinen Handlungen auch einen ganz neuen Rahmen des Verstehens und der Würdigung erhielten. Zusammen mit seinen Eltern und der Bezugserzieherin vollzog Max ein erstaunliches Wachstum. Viele in der Kita neu erworbene Fähigkeiten und Ressourcen wurden über den Kurs hinaus bis zur Einschulung weiter ausgebaut und lassen ihn heute in der 2. Klasse einer Grundschule sehr davon profitieren.

Übersicht: Biografiearbeit mit Kindern

Grundsätze:

  • Sammeln von Daten und Fakten
  • Beobachten, recherchieren und dokumentieren
  • Austausch im Team, Reflexion
  • Perspektivenwechsel

Haltung der Begleiterin/des Begleiters:

  • Ressourcen fokussieren
  • Vermittlung von fachlichem Hintergrundwissen an Eltern
  • Flexibilität, Kreativität und Sensibilität im Einsatz von Tools
  • Zeit und Entspannung beim Zuhören
  • Fähigkeit, über schwierige Lebensthemen zu sprechen
  • Reflexion der eigenen Biografie
  • Kontakt- und Beziehungsebene zum Kind

Fazit

Erzieher/innen müssen großen Herausforderungen gerade in einer Zeit enormen digitalen Wandels und einer unüberschaubaren Medienvielfalt gewachsen sein. Mit Biografiearbeit können Erzieher/innen einen wichtigen Beitrag leisten für das, was in dieser immer schneller werdenden Welt oftmals fehlt: Integration . Hier wirkt der Weg der kleinen Schritte entschleunigend – in der Biografiearbeit finden wir wieder Zeit und Muße für ein verständnisvolles Miteinander.

Bildnachweis: Africa/stock.adobe.com


Marie-Anne Raithel

Marie-Anne Raithel

Heilpraktikerin für Psychotherapie, EMDR-Therapeutin (DGMT/VDH), Coach/systemische Ausrichtung (DVNLP), traumasensible Begleitung von Kindern in Institutionen, Autorin des Fachbuchs HERZWESEN®-Lernen mit allen Sinnen

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